„Bis morgen, mein Schatz und schlaf gut“, murmelt meine Mutter und lässt sich dann von meinem Vater regelrecht aus dem Zimmer führen. Sie scheinen ein Problem damit zu haben, mich erneut allein zu lassen. Aber schließlich ist das ja nur bis morgen und nicht einen Urlaub lang und ich kann sie einfach nicht länger ertragen.
„Tschüss, Marcel!“, rufen beide noch wie aus einem Mund.
„Und danke!“, fügt mein Vater noch hinzu und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Er scheint erleichtert zu sein, dass Marcel bei mir bleibt und das mit mir weiter meistern will. Als wäre ich ein Problemfall.
Marcel! Ich sehe ihn verunsichert an.
„Puh, sind Eltern anstrengend“, versuche ich die Stimmung etwas zu lockern, die sich drückend auf uns legt. Es ist komisch, ihn an meiner Seite zu haben. Ich weiß gar nicht richtig wie ich damit umgehen soll.
Marcel steht auf und geht zum Fenster. Langsam senkt sich die Dämmerung über das Krankenhaus und die kleine Stadt. Ich schlucke wieder und spüre ein trockenes Reiben in meinem Hals.
„Soll ich auch gehen?“, fragt Marcel leise und ohne mich anzusehen. Seine Stimme hat einen tieftraurigen und resignierten Unterton, der mich verwirrt.
„Warum?“, frage ich heiser zurück. Das Reden tut mir nicht gut.
„Du sagtest, du bist müde. Das klingt wie ein Rausschmiss.“ Langsam dreht Marcel sich um und sieht mich an. Er wirkt niedergeschlagen und ich könnte wetten, wenn er seine Kappe in der Nähe hätte, dann würde er sie sich jetzt tief ins Gesicht ziehen.
Ich habe das Gefühl ihm einiges erklären zu müssen.
„Komm her.“ Ich klopfe auf die Bettkante, damit er sich zu mir setzt und ich nicht so laut reden muss. „Ich wollte nur meine Eltern loswerden.“ Das Sprechen wird immer schwieriger und ich weiß, viel bringe ich nicht mehr heraus.
Langsam kommt Marcel zum Bett zurück und setzt sich wieder. Doch er nimmt nicht meine Hand oder versucht sonst eine Annäherung.
Ich bin froh darüber. Mir ist selbst nicht ganz klar, was ich eigentlich von ihm und allem halten soll. Aber sein niedergeschlagener Gesichtsausdruck berührt mich doch irgendwo in meinem tiefsten Inneren.
Ich taste nach der Fernbedienung, die an einem Kabel über meinem Bett hängt und Marcel greift ein. „Soll ich das Kopfteil etwas hochfahren?“
Ich nicke und bin froh, dass er mir hilft. Mir ist wichtig, dass ich ihm in die Augen sehen kann, wenn ich ihn über meine Eltern und ihr seltsames Verhalten aufkläre. Und vielleicht fällt mir dann das Sprechen leichter. Außerdem hoffe ich, dass ich so etwas trinken kann.
Auf meinem Tisch stehen ein Glas und eine Wasserflasche. Ich greife danach, aber Marcel kommt mir zuvor. Er gießt Wasser in das Glas und reicht es mir, den Kopf schüttelnd. Seine Augen funkeln aufgebracht und er raunzt: „Sag doch etwas, wenn du was brauchst. Oder ist das auch schon zu viel?“
Ich sehe ihn beunruhigt an. Ist er wütend auf mich?
Ich trinke unbeholfen einige Schlucke und spüre die Linderung in meinem Hals. Das Glas reiche ich verunsichert Marcel, der es wieder auf den Tisch zurückstellt. Er sieht dabei immer noch so niedergeschlagen aus.
Ich kann seinen Blick kaum ertragen. Es rührt sich etwas in mir, dass ich nicht einschätzen kann.
Das ist alles so anstrengend und ich fühle mich schon wieder erschöpft. Aber ich möchte nicht, dass Marcel so aufgebracht und wütend ist. So versuche ich ihm zu erklären: „Du musst meinen Eltern nicht böse sein, sie wussten nichts von Julians seltsamen Anwandlungen. Sie wissen noch nicht mal, dass er genauso unter schrecklichen Träumen leidet wie ich. Sie wissen von nichts wirklich etwas und können somit auch nichts verstehen. Aber ich werde ihnen irgendwann alles erzählen“, verspreche ich ihm und glaube ihn damit zu beruhigen.
Marcel sieht mich groß an. „Warum glaubst du, dass ich wütend auf deine Eltern bin? Sie sind einfach nur dumme Eltern. Man kann von ihnen im Allgemeinen nicht viel erwarten“, brummt er.
Ich sehe ihn irritiert an und nehme alle meine Kräfte zusammen. „Aber du wirktest auf einmal so traurig und ich dachte, es liegt an meinen Eltern - weil sie so tun, als wäre Julian das arme Opfer von irgendwas und völlig unschuldig“, erkläre ich verunsichert.
Marcel steht wieder vom Bett auf und geht zum Fenster. Er blickt hinaus und ich bin noch irritierter.
„Deine Eltern sind mir scheißegal“, knurrt er mit einem störrischen Unterton in der Stimme, den ich an ihm gar nicht vermutet hätte. Was ist bloß mit ihm los? Ich kann mir darauf keinen Reim machen.
„Aber was ist es dann?“, frage ich.
Marcel dreht sich langsam um und sieht mich mit einem herzerweichenden Hundeblick an. „Ich weiß nicht, was ich noch tun soll“, höre ich ihn resigniert sagen.
Er schaut auf seine Hände und ich warte auf das, was noch folgen muss. Doch es kommt nichts.
Vorsichtig frage ich nach: „Was meinst du damit?“
Langsam kommt er zu meinem Bett zurück und setzt sich auf die äußerste Kante des Bettrandes, als wolle er jederzeit zur Flucht bereit sein. Sein Blick wirkt verdrossen und sein Gesichtsausdruck angespannt. Seine Hände krallen sich in die Bettdecke und ich bin mir nicht sicher, was nun folgen wird.
„Ich kann tun, was ich will, du …“ Er schüttelt resigniert den Kopf, wendet den Blick ab und sieht zu Boden.
Mir fällt es wie Schuppen von den Augen. Marcel rettet mir das Leben und verbringt jede freie Minute an meinem Krankenbett und ich zeige ihm keine Sekunde so etwas wie Dankbarkeit oder dass mir das etwas bedeutet. Als er mich aus dem Labor nach oben getragen hatte, sprach er sogar davon, dass er mich liebt. Und alles was vorher war … auch da hatte Marcel mir immer gezeigt, dass ich ihm etwas bedeute. Ich muss an die Nacht denken, als ich bei ihm Zuhause war, er sich stundenlang meine Geschichte anhörte, mich die halbe Nacht tröstend in seinen Armen hielt und wie er mich morgens an sich zog und küsste.
Ich sehe in sein trauriges Gesicht, das noch immer den Blick gesenkt hält, als hätte er Angst, zu viel von sich preiszugeben, wenn ich in seine Augen sehe.
„Ich kann dir nicht mal einen kleinen Kuss geben“, nuschelt er leise, als solle ich das eigentlich gar nicht hören und seine Stimme zittert leicht. „Und ich dachte, nach der Nacht bei mir …“ Er schließt die Augen und verzieht das Gesicht, als verspüre er einen stechenden Schmerz und dreht den Kopf zur Seite.
Mir fällt die Szene mit dem Kuss wieder ein, den er mir auf den Mund gehaucht hatte und der mir vor meinen Eltern so unendlich peinlich war. Dabei hatten sie das noch nicht einmal gesehen. Die waren viel zu beschäftigt mit sich selbst.
Mir fällt auch die weitere Reaktion von Marcel ein und mir wird klar, warum er die ganze Zeit so traurig dagesessen hatte. Er glaubt, dass er mir völlig egal ist und dass nichts, was er für mich tut, eine Bedeutung für mich hat.
Wenn mir eines in diesem Moment klar wird, dann, dass ich Marcel nicht nur viel zu verdanken habe und er mir zu einem Freund geworden ist, sondern dass ich ihn wirklich mag. Seine ganze Art berührt mich. Er ist so stark und beschützend und kann auch so schrecklich sensibel sein. Und ich bin mir bei ihm absolut sicher, dass er mir niemals wehtun wird. Aber leider ist es andersherum nicht so. Ich habe ihm bestimmt schon viel Leid zugefügt. Wie oft hatte ich ihn als Alibi benutzt, ihn nicht angerufen, wenn er darauf wartete, ihn auf sein Sofa verwiesen …
Ich setze mich ganz auf, was mir einen stechenden Schmerz an meiner Halswunde einbringt. Kurz greife ich an meinen Nacken und fühle dort ein dickes Paket, das dort aufgeklebt wurde. Das zu fühlen erschreckt und verunsichert mich kurz. Aber noch mehr verwirrt mich Marcels Gesichtsausdruck und die Art, wie er versucht mich nicht in sein Gesicht sehen zu lassen. Ich ignoriere das schreckliche Unbehagen, das der Verband an meinem Hals verursacht und lege meine Hand an seine Wange, darauf achtend,