Marcel hat die Augen geschlossen und seine leichte Gegenwehr zeigt mir, dass er auf gar keinen Fall will, dass ich bei ihm Tränen sehe.
„Hey, Marcel!“, flüstere ich betroffen: „Es tut mir leid. Das war wegen meinen Eltern. Nicht wegen dir!“ Ich lege ihm meine andere Hand auf die andere Wange und ziehe ihn unschlüssig, was ich überhaupt will, zu mir heran.
Marcel hält die Augen weiter geschlossen und den Mund verdrossen zusammengepresst. Doch er lässt sich willig von meinen Händen dirigieren. Eine Träne macht sich selbstständig und läuft über seine Wange.
Das ist für mich unerträglich. Es kann doch nicht sein, dass Marcel weint. Das versetzt mir einen Stich und lässt meine Gefühle durcheinanderpurzeln.
Mir wird klar, wie sehr ihn das alles hier trifft, und dass mich seine Tränen so berühren zeigt mir, dass er mir nicht egal ist. Ich will nicht, dass er leidet. Mein Gott! Ich möchte, dass es ihm gut geht. Niemals hatte ich geahnt, dass er so leiden könnte, wenn ich ihm meine Gefühle vorenthalte, die sich bei seinem Anblick nun klar in meinem Inneren für ihn regen.
Ich ziehe ihn dicht zu mir und hauche ihm mit einem sachten Kuss die Träne weg. Ich sehe ihn an und warte auf seine Reaktion, die nicht kommt.
Ich gebe ihm einen Kuss auf die andere Wange.
Marcel hält einfach nur still. Er scheint sich noch nicht sicher zu sein, ob es bei freundschaftlichen Küssen auf die Wange bleibt oder was ich damit bezwecke.
Aber ich weiß, was ich tun muss. Das bin ich ihm schuldig … und ich will es auch.
Vorsichtig streiche ich ihm eine Strähne seiner blonden Haare aus dem Gesicht, ziehe ihn etwas näher an mich heran und küsse ihn auf den Mund, ganz sachte, wie ein Hauch - so wie er mich geküsst hatte.
Er reagiert immer noch nicht und ich flüstere: „Sei mir doch bitte nicht mehr böse. Du bist mir total wichtig. Glaub mir.“
Was soll ich ihm auch sonst sagen? Und ich fühle das auch so, was mich selbst nicht weniger überraschend trifft.
Erneut ziehe ich ihn näher und küsse ihn noch einmal. Ich will nicht, dass er mich jetzt hier im Regen stehen lässt. Er soll wenigstens irgendwie reagieren.
Seine Lippen öffnen sich und seine Hände schnellen vor, legen sich um mein Gesicht und halten mich fest, als hätte er Angst, ich könnte es mir wieder überlegen. Unsere Zungen berühren sich und ich fühle so etwas wie Erleichterung, dass er meine Bemühungen nicht mehr ignoriert. Aber der aufkommende Schmerz an meinem Hals lässt mich zusammenfahren und ihn von mir schieben. „Au, au…“, ächze ich und kneife die Augen zusammen.
„Oh, entschuldige!“, raunt er mit belegter Stimme. „Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun.“ Er scheint wirklich entsetzt darüber zu sein, aber seine Augen funkeln hoffnungsvoll. „Aber ich …“
„Du kannst nichts dafür. Es war meine eigene Schuld“, antworte ich ihm schnell, weil ich ihn auf gar keinen Fall wieder so traurig sehen will und sein „Aber ich …“ lieber nicht hören möchte. Das ist mir dann doch zu viel.
Vorsichtig schiebt er sich etwas dichter an mich heran und legt seine Wange an meine. Seinen Arm schiebt er dabei vorsichtig um meine Schultern und hält mich umschlungen, als hätte er Angst, ich würde wieder unnahbar werden, wenn er mich loslässt. „Weißt du“, flüstert er mir ins Ohr: „wenn ich zu spät gekommen wäre und du das nicht überlebt hättest … ich hätte auch nicht mehr leben wollen.“
Erst ist mir nicht klar, was er meint. Zu sehr irritieren mich seine Worte. Und sie machen mich sprachlos. Seine Gefühle mir gegenüber machen mich sprachlos. Dass er so empfindet ist mehr, als ich geahnt hatte und mehr, als ich verkraften kann.
Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Was soll ich darauf antworten?
Wir werden jäh unterbrochen, als die Tür aufgeht und eine Krankenschwester ins Zimmer tritt.
Marcel lässt mich los und sieht zur Tür.
„Da es Fräulein Maddisheim wieder bessergeht, denke ich, wir sollten anfangen auf Besuchszeiten zu achten, Herr Blum“, meint sie freundlich und sieht Marcel dabei an, der sich langsam aufsetzt und mich ins Kissen sinken lässt. „Außerdem sollten Sie auch mal richtig schlafen.“
„Aber …“, setzt er an, um seine Meinung darüber zu äußern.
Schnell komme ich ihm zuvor. „Natürlich!“ Zu ihm gewandt, sage ich: „Ich bin noch so müde und du willst doch bestimmt auch noch mal etwas anderes tun, als auf meiner Bettkante zu hocken.“ Ich streiche ihm über die Wange und schenk ihm ein Lächeln.
„Das war nur, weil Ihr Freund sich weigerte von Ihrer Seite zu weichen und Ihre Eltern noch nicht da waren. Da haben wir eine Ausnahme gemacht und ihn bleiben lassen. Aber da es Ihnen nun bessergeht, müssen wir uns auch wieder an die Vorschriften halten“, gibt mir die Krankenschwester zu verstehen und lächelt freundlich. Sie findet das Ganze hier wohl ausgesprochen romantisch.
In meinem Kopf schwirrt allerdings nur der Ausspruch: Mein Freund!
Ich sehe Marcel verwirrt an und er erwidert den Blick vorsichtig, als erwarte er ein Donnerwetter. Aber ich will heute nicht darüber diskutieren, warum er sich als meinen Freund ausgab. Ich möchte lieber die Möglichkeit nutzen, Marcel nach Hause schicken zu können, ohne ihn erneut vor den Kopf zu stoßen. Er hatte so viel Gefühl preisgegeben, dass ich im Moment nicht wechseln kann. Doch ich bin mir sicher, dass er darauf wartet. Aber dass im Krankenhaus alle Marcel für meinen Freund halten, reicht eigentlich schon für unseren ersten Tag. Ich muss erst mal über alles nachdenken und alles wirken lassen. Es ist so viel passiert! Ich weiß nicht, was ich fühle und was nicht … und irgendwo in meinem tiefsten Inneren herrscht auch noch Tim über sein Reich. Es ist in Marcels fürsorglicher Gegenwart zwar geschrumpft, aber ganz klar noch vorhanden.
„Du kannst mich morgen wieder besuchen“, raune ich ihm zu. „Ich werde auch auf dich warten.“
Mann, klingt das geschwollen. Wie aus einem Kitschroman. Aber ich glaube, dass das die richtigen Worte sind, um Marcel beruhigt und glücklich nach Hause fahren zu lassen.
„Verdammt! Ich will aber noch nicht gehen“, zischt er aufgebracht. „Ich will dich nicht wieder allein lassen!“
Marcel kann störrisch wie ein Maulesel sein und scheinbar lässt er sich nicht gerne etwas sagen. „Bitte, wenigstens noch eine Stunde“, wendet er sich an die Krankenschwester.
Ich schalte mich schnell ein. „Wir wollen doch keinen Ärger. Es ist doch nicht lange. Morgen sehen wir uns wieder, okay?“, versuche ich ihn dazu zu bewegen mit der Schwester mitzugehen.
Marcel blickt zu der Frau, die immer noch an der Tür wartet und dann sieht er mich wieder an. „Ich kann morgen leider erst am späten Nachmittag kommen. Ich müsste eigentlich mal wieder zur Arbeit gehen. Mein Chef ist jetzt schon sauer, weil ich einfach weggeblieben bin“, erklärt er bedrückt.
Später Nachmittag … vollkommen ausreichend. Bis dahin werde ich mich und meine Gefühlswelt wieder im Griff haben.
„Dann sehen wir uns morgen Nachmittag. Gar kein Problem.“
Gar kein Problem klingt auch wieder nicht nett. Es ist für Marcel augenscheinlich schon ein Problem und ich habe natürlich auch eins damit zu haben. Ich sehe es an seinem Blick. „Ich meine, ich werde es schon irgendwie überleben … und mich nicht von der Stelle rühren, bis du wieder da bist“, sage ich und streiche wieder über seine Wange.
Er nickt und grinst mich mit seinem Lausbubenlächeln an, das wieder den alten Marcel zeigt. So ist er mir schon lieber. Damit kann ich eher umgehen.
„Gut, Schatz. Ich komme morgen so schnell ich kann.“ Er küsst mich auf den Mund, als solle das den Bund besiegeln.
In meinem Kopf rumpelte das Wort „Schatz“ wie ein Viehwagen mit eckigen Rädern auf einem Kopfsteinpflaster. Doch ich lasse mir