Ein Rütteln an der Schulter riss Nikolaus unsanft aus einem unruhigen Traum. Die Erschöpfung und die Übelkeit hatten ihn in einen tiefen Schlaf versinken lassen, so dass er weder den einsetzenden Regen noch die Kälte spürte. Über ihm stand der Eigner des Schiffes. Er gestikulierte wild und zeigte immer wieder in die Richtung der Luke, die unter das Deck führte. Nicolas verstand nicht, was der Mann sagte. Aber irgendetwas schien passiert zu sein. Mühsam rappelte er sich auf. Der Wind hatte deutlich nachgelassen und es nieselte nur noch leicht. Etwas unsicher taumelte er zur Leiter und schaute zusammen mit dem zeternden Kerl durch die Luke hinab. Leider war es zu finster da unten, um etwas erkennen zu können. Nicolas musste also wohl oder übel wieder in den Bauch des Schiffes klettern, obwohl er sich geschworen hatte, den Rest der Reise an Deck zu verbringen. Und es waren ja noch seine Sachen da unten. Auch, wenn es sich nur um wenige Habseligleiten handelte, so war es doch alles, was er besaß.
Der Kapitän folge ihm mit einem Kienspan in der Hand. Das Bild, das sich Nicolas bot, war erschreckend. Die Ladung hatte sich in der Nacht losgerissen und im gesamten Raum verteilt. Aber wo war Wolfram? Saß er nicht zuletzt dort drüben an der Wand? Nicolas riss dem Kapitän die Fackel aus der Hand und leuchtete die Ränder ab. Da sah er die Beine des Ritters in einem vollkommen unnatürlichen Winkel unter einer großen Kiste hervorschauen, die sich aus der Verankerung gelöst hatte und quer durch den Raum geschleudert worden war. Der schlafende Wolfram hatte keine Chance gehabt. Er war von der Kiste erschlagen worden, ohne vorher wach geworden zu sein.
Zutiefst erschüttert ließ sich Nicolas zu Boden sinken. Der Kapitän ging zur Luke zurück und rief zwei seiner Leute herunter. Zu dritt gelang es ihnen, die Kiste von dem Leichnam herabzuziehen. Wolframs Brustkorb war wohl von der schweren Last zerquetscht worden. Er musste sofort tot gewesen sein. Langsam kam Nicolas wieder zu sich und schaute mit stummem Entsetzen auf das Bild, das sich ihm bot. Doch obwohl ihn der Tod des Ritters tief berührte, galt sein erster Gedanke der Tatsache, was nun aus ihm selbst werden würde. Verstohlen schaute er auf den Anführer des Schiffes. Auf ein fast unmerkliches Zwinkern ihres Herrn hin, packten die zwei Kerle Nicolas grob an den Armen und rissen ihn in eine Ecke. Dort hielt der eine ihn fest, während der andere dem Schiffseigner half, Wolfram die Rüstung vom Leib zu zerren. Den Leichnam des Ritters wickelten sie in eine Leinwand und hievten ihn die Leiter hinauf an Deck. Nicolas wurde hinterher geschleift, immer noch hielt ihn der Matrose fest im Griff.
„Du dich jetzt verabschieden von Herrn“, sagte der Anführer in schlechtem Französisch. „Wir schnell ihn begraben in Meer, bevor Unheil an Bord“. Nicolas war zu verstört, um Einspruch erheben zu können. Stumm ließ er sich neben dem Ritter auf die Knie sinken. Als er sich nicht rührte, stieß ihn der Kapitän unsanft mit dem Fuß in die Seite. „Los du“, stieß er rau hervor. „Wir hier nicht ewig Zeit.“
Leise begann Nicolas das Vaterunser zu beten, wie ganz von selbst bewegten sich seine Lippen, konnte sein Gehirn das Unfassbare noch gar nicht verarbeiten. Als er verstummte, packten die Gehilfen des Kapitäns den Ritter und wuchteten ihn unsanft wie einen Sack Lumpen über die Schiffswand. Ein lautes Klatschen, dann war Wolfram für immer in seinem nassen Grab versunken.
„Du gehen unter Deck. Ich dich holen, wenn da.“ Die Worte des Kapitäns drangen nur mühsam zu Nicolas vor. Wie in Trance bewegte er sich auf die Luke zu und stieg die Leiter hinunter. Über ihm wurde die Tür zugeworfen und Dunkelheit hüllte ihn ein. Was sollte jetzt bloß werden? Die Reisepläne waren im Kopf von Wolfram gewesen. Er hatte ihm nur wenig erzählt, da er Nicolas immer als eine Belastung empfand, die ihm aufgebürdet worden war. Ob Dietrich noch in Jerusalem weilte? Er musste unbedingt dorthin gelangen, koste es was es wolle.
Im Finstern begann er um sich her den Boden abzutasten. Dann stieß seine Hand an das Bündel, das er hier unten gelassen hatte. Sich daran orientierend kroch er an der Wand entlang bis er auf ein neues Hindernis stieß. Etwas Feuchtes war unter seinen Händen zu spüren, und mit Entsetzen ging ihm auf, dass dies das Blut von Wolfram sein musste. Den Gedanken verdrängend, tastete er weiter. Irgendwo hier mussten noch die Sachen Wolframs liegen. Die Rüstung und das Schwert hatten die Kerle an sich genommen, doch den Sack mit den wenigen Kleidern des Ritters und dem Proviant liegen gelassen. Und da, es fühlte sich wie derbes Leinen an. Er strich mit den Händen darüber. Jetzt fand er die Öffnung und langte hinein. Und in der Tat war es Wolframs Habe, die sich darin befand. Doch noch etwas ertastete er: einen Dolch und, was noch viel schwerer wog, einen kleinen Beutel mit Münzen. Schnell nahm er die Sachen an sich und robbte zurück, bis zu seinem eigenen Bündel. Er schnürte es mit Wolframs zusammen, die Münzen steckte er in sein Wams. Was gäbe er jetzt darum, das Schwert und das Kettenhemd seines Ritters zu besitzen.
Nach schier endloser Zeit wurde die Luke über ihm wieder geöffnet. Einer der Gesellen, die ihn zuvor festgehalten hatten, erschien auf der Leiter und warf ihm ein kleines Päckchen zu. Im schwachen Schein des hereinfallenden Tageslichtes wickelte Nicolas es aus. Darin fand er einen Kanten helles Brot und ein kleines Stück weißen Käses zusammen mit einigen Früchten, die ihm völlig unbekannt waren, aber einen köstlichen Duft verströmten. Der Kerl erschien wieder in der Luke. Diesmal stieg er einige Sprossen herab und hielt Nicolas einen Krug hin. Als der ihn entgegennahm, stieg ihm der Geruch sauren Weins in die Nase. Doch war das besser als nichts, hatte er doch schon seit fast anderthalb Tagen nichts gegessen und kaum etwas getrunken. Erst jetzt merkte er, wie taumelig ihm schon war vor Hunger und vor allem vor Durst.
Die Luke wurde wieder geschlossen und von neuem hüllte Nicolas Finsternis ein. Er wickelte sich in seinen Umhang und umklammerte sein Gepäck. Nicht noch einmal wollte er unvorbereitet irgendwohin gezerrt werden, ohne seine Sachen bei sich zu haben.
So verging der Tag. Nicolas hörte hin und wieder Gemurmel. Die barsche Stimme des Schiffseigners rief Befehle, dann war wieder vollkommene Stille. Wahrscheinlich war es inzwischen Nacht geworden. Nicolas döste stundenlang vor sich hin, bis ihn der Schlaf übermannte. Ein heller Lichtstrahl weckte ihn. Jemand hatte die Luke erneut geöffnet und die Sonne, die hoch am Himmel stand, schien ihm direkt ins Gesicht. Laute Geräusche drangen in den Schiffsbauch herunter. „Komm“, sagte eine barsche Stimme, das Gesicht des Kapitäns erschien daraufhin in der Luke. „Wir in Aslan Limani .“ Dann verschwand das Gesicht wieder, worüber Nicolas nicht unbedingt betrübt war. Langsam stieg er die Leiter herauf, das grelle Licht der Sonne blendete ihn zunächst. Nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit. Sie waren in den Hafen von Aslan Limani eingefahren. Es herrschte bereits reges Treiben auf der Dau, Waren wurden heruntergeschafft und neue heraufgeladen. Niemand beachtete Nicolas. Vollkommen unbehelligt verließ er das Schiff. Am Kai schaute er um sich. Es war zwar ein recht weites Hafenbecken. Auch lagen noch andere Schiffe vor Anker, aber nur kleinere Handelsboote und Schiffe, die an der Küste entlangfuhren. Keine größere Brigg oder Galeere waren zu sehen. Kein Schiff, das ihn hätte weiter bringen können an die syrische Küste.
Kapitel 11
Griechenland
Sommer 1195
Wochen waren vergangen, seit Nicolas in Aslan Limani gelandet war. Die erste Nacht hatte er sich in der Hafengegend herumgetrieben. Aber wie in allen Häfen auf der Welt, schien auch hier sich alles gemeine Gesindel der Gegend aufzuhalten. So bangte Nicolas um seine Habe und um Leib und Leben. Im tiefsten Schatten in eine kleine Mauernische gedrückt, harrte er stundenlang aus und sehnte sich die Morgendämmerung herbei. Als es hell wurde, ging er in die obere Stadt. Geschäftiges Treiben auf den Straßen und Plätzen empfing Nicolas und die vielen neuen Eindrücke ließen ihn für einen Moment sein Elend vergessen. An einem Stand mit heißen Pasteten blieb er stehen. Sein Magen knurrte und ihm wurde bewusst, wie lange er nichts gegessen hatte. Verstohlen kramte er in dem Beutel in seinem Wams und fischte eine kleine silberne Münze hervor. In der Hoffnung, dass der Pastetenbäcker diese nehmen würde, reichte er sie ihm und zeigt auf ein heißes Küchlein. Der Bäcker schaute einen Moment verdutzt auf die Münze, dann nahm er das große Blatt eines Nicolas völlig unbekannten Baumes, um zwei heiße Pasteten darauf zu legen. Mit mehreren tiefen Verneigungen