Ein Islam ohne Prophet. Mohammed Khallouk. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mohammed Khallouk
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844272017
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gebranntmarkten späteren Gelehrten, die über die religiösen Glaubensinhalte bereits aus der mündlichen Überlieferung informiert waren, jene schriftlichen Quellen, die offenbar davon erkennbar abwichen, als wenig plausibel erschienen sind und sie die Nachwelt vor „Irrglauben“ zu bewahren trachteten.

      Für den Ende des zweiten Jahrhunderts weitgehend abgeschlossenen neutestamentlichen Kanon kann diese These sogar als ziemlich sicher gelten, weil hier nicht wenige der nicht kanonisierten Schriften als sogenannte „Pseudoepigraphen“ noch vorliegen. So sind die Aussagen der vier kanonischen Evangelisten zum Leben Jesu - bei allen Divergenzen - zueinander weit ähnlicher als beispielsweise zum pseudoepigraphischen Kindheitsevangelium des Thomas, wo Jesus bereits in seiner Kindheit Wunder zugeschrieben werden, die auf die eigentliche Heilsverkündung (weitgehend in den letzten drei Jahren seines Lebens) keinerlei unmittelbaren Bezug aufweisen.[25] Diese Erzählungen wurden schon von der alten Kirche - offenbar zu Recht - als Legenden erkannt, denen ein geringer religiöser heilsgeschichtlicher Stellenwert zu eigen ist.

      Für die frühen islamischen Gelehrten sollte eine vergleichbare Wertschätzung angenommen werden, zumal die in jener Zeit üblichen mündlichen Überlieferungen erst als „Wahrheit“ angesehen werden durften, wenn zwei Zeitzeugen unabhängig voneinander die selbe Begebenheit bestätigen konnten. Vor diesem Hintergrund war es im Islam sogar - anders als im Juden- und Christentum - überhaupt nicht notwendig, mehre Heilsquellen oder „Evangelien“ nebeneinander zu besitzen. Hierin liegt offenbar eine der Ursachen für die von Kalisch als „sonderbar“ anmutende Quellenarmut in der islamischen Frühgeschichte. Als „sonderbar“ ist in diesem Zusammenhang wohl eher die These Kalischs zu werten, der Islam stehe in der Tradition des Alten und Neuen Testamentes. Wieso sollte der Koran in der Bibel bereits eingehend beschriebene Begebenheiten wie den Exodus unter Moses nun in muslimischer Deutung wiederholen, wenn sie als „jüdisch-christliche Quellen“ der angesprochenen Gesellschaft bereits zugänglich gewesen wären. So stellt Kalisch fest: „Kein Prophet wird so oft im Qu`ran erwähnt wie Moses und die muslimische Tradition hat immer die Ähnlichkeit zwischen Moses und Muhammad betont.“ Hierzu merkt er weiter an: „Schon dem Propheten selbst ist dieser Vergleich in den Mund gelegt worden. Das zentrale Ereignis im Leben des Moses ist der Exodus der unterdrückten Kinder Israels aus Ägypten und das zentrale Ereignis im Leben Muhammads ist der Exodus seiner unterdrückten Gemeinde von Mekka nach Medina.“[26]

      Das Neue Testament wiederholt auch nicht in abgewandelter Form die alttestamentlichen Berichte, wenngleich es mehrfach darauf Bezug nimmt. Schließlich erwarteten die Evangelisten und Apostel geradezu, dass ihre Adressaten die alttestamentlichen Originaltexte bei religiösen Unklarheiten zu Rate ziehen würden, um mit ihrer Hilfe, ergänzt durch die christlich-neutestamentlichen Interpretationen, die für ihre Gegenwart geeigneten Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Für Kalisch erscheinen Argumente dieser Art wenig überzeugend, denn er zweifelt nicht nur ebenso wie den Propheten Mohammed die Existenz der früheren, dem Juden- und Christentum entstammenden Glaubensväter wie Jesus, Moses und Josua an, sondern stellt die neutestamentlichen Schreiber ebenso wie die islamischen Urquellen in Zusammenhang mit heidnisch antikem Gedankengut wie dem römischen Mithraskult[27] und der Gnosis[28], Strömungen die nicht nur nachweislich in Konkurrenz zum Monotheismus hebräisch-palästinischer Herkunft standen, sondern denen bereits von der christlichen Theologie frühzeitig entgegengetreten worden ist.

      Als unbestreitbar gilt hingegen, dass das Christentum sich in einer jüdischen Tradition sieht, als „Erfüllung alttestamentlicher Prophezeiungen“[29], die demnach lediglich von den Juden selbst nicht angemessen erkannt und gedeutet worden seien. Der Islam billigt ebenfalls Juden wie Christen zu, Wahrheiten bereits erkannt zu haben, die den mekkanischen Heiden bisher nicht zugänglich gewesen waren. Er richtete sich jedoch anfangs nicht nur in erster Linie an zuvor mehrheitlich heidnische Gesellschaften, sondern hat weder dem Alten noch dem Neuen Testament für die existenziellen islamischen Glaubensaussagen einen besonderen Stellenwert beigemessen, da die göttliche Offenbarung erst Prophet Mohammed in reiner, unverfälschter und vollständiger Form geoffenbart worden sein soll. Dieser neuen Offenbarung hätte es nicht mehr bedurft, wenn die jüdisch-christlichen Propheten sie bereits vollständig verkündet hätten.

      Quellenarmut als Beweis für Unhistorizität?

      Kalisch stellt fest, dass die wenigen, erhalten gebliebenen frühislamischen Quellen nur sehr selten auf den Propheten unmittelbar Bezug nehmen und folgert daraus, dass dieser erst im 3. Jahrhundert der Hedschra für den Islam Bedeutung erlangt habe. So merkt er an: „Der Begriff „sunna“ war ursprünglich nicht allein für den Propheten reserviert. Er stellt sich unter anderem auch als Begriff für einen allgemeinen oder lokalen Konsens dar.“[30] Kalisch verkennt die eigentlich trivial erscheinende Tatsache, dass die Zeitgenossen sich der Bedeutung Mohammeds bereits aus eigenem Erleben heraus bewusst gewesen sein müssen und zur Absicherung ihrer Positionen des expliziten Verweises auf den Propheten nicht bedurften. Dieser war erst notwendig, in dem Maße, wie man befürchten musste, dass sein Stellenwert für den Islam und Vorbildcharakter für jeden Muslim angesichts der zeitlichen Entfernung von seinem irdischen Leben in Vergessenheit geraten würde.

      Erstmalig ist dies bereits mit der Niederschrift des von ihm mündlich der Menschheit überlieferten Korans zehn Jahre nach seinem Tod geschehen, der das wichtigste Zeugnis des Propheten und darüber hinaus des Islam insgesamt darstellt. Diesem folgte nun die Sunna, in der die Ansichten des Propheten zu wesentlichen gesellschaftlichen Problemstellungen fixiert sind, deren Bezug zum Propheten von vorn herein feststand und daher nicht permanent wiederholt zu werden benötigte. Erst in dem Maße, wie dieser Bezug für die Zeitgenossen nicht mehr aus eigenem Erleben nachempfindbar war, bedurfte es einer „islamischen Kanonisierung“, wo die bedeutendsten und für den Alltagsmuslimen relevanten Aussagen des Propheten direkt auf ihn sich beziehender Gelehrter zusammengetragen und in komprimierter Form als Hadithe niedergeschrieben wurden.

      Der permanente Verweis auf Prophet Mohammed als Urheber war nun ebenso vonnöten wie die Entfernung unbedeutender, als legender und mythisch verklärt erkannter Ausschmückungen von Nachgeborenen. Wenn der Begriff „historisch-kritische“ Wissenschaft etwas weiter gefasst wird als bei Kalisch, können jene islamischen Gelehrten des 3. und 4. Jahrhunderts, denen er die vermeintliche „Erhebung Mohammeds auf religionsstiftenden Rang“ attestiert, als die ersten „historisch-kritischen Islamwissenschaftler“ angesehen werden. Sie zielten nur gerade nicht auf die Widerlegung der prophetischen Existenz, sondern im Gegenteil auf seine Hervorhebung und historisch-literarische Rechtfertigung ab. Historisch-Kritische Quellenanalyse ist im Islam kaum weniger bekannt als in der christlichen Theologie und als Methode in keiner Weise ein neuzeitliches Phänomen, wenngleich neuzeitlichen Wissenschaftlern mit der modernen Archäologie andere Wege der Quellenanalyse offen stehen, welche sich erst in der jüngsten Vergangenheit zu einer eigenständigen Disziplin innerhalb der Theologie entwickeln konnte.

      In Bezug auf den Islam existiert historisch- kritische Wissenschaft sowohl von Seiten der islamischen Gelehrten selbst als auch von außerislamischen Orientalisten, die vor allem im deutschsprachigen Raum zu ähnlich bedeutender Pionierleistung in der Lage waren wie Bultmann innerhalb der christlich-protestantischen Theologie. Ihr Ziel bestand nur in keiner Weise darin, die zentralen islamischen Glaubensaussagen zu revidieren oder gar zu Mythen herabzustufen, sondern ein zeitgemäßes Verständnis für die islamischen Normvorstellungen zu entwickeln.

      Gleichsetzung zeitgeschichtlicher Interpretationen mit „dem Islam“

      Unabhängig davon hat man sich dem Christentum wie dem Islam auch von gnostischer Weltanschauung her genähert. Hieraus zu schließen, dass die bedeutendendsten religiösen Botschafter gnostisch verklärte Projektionen seien, erscheint jedoch sehr gewagt. Ebenso ist die