„Hier habt ihr also gelebt.“, stellt Carissima fest. Der Raum der Heiler ist weitläufig und im hinteren Bereich in einzelne Kammern unterteilt, wo jeder sein Rückzugsgebiet hatte. Das Brilium versieht nach wie vor seinen Dienst und die Halle ist hell erleuchtet.
„Ja. Eine der Kammern dort hinten bewohnte ich mit Anschild.“, erklärt Dankwart Hammerfest.
„Und es war alles fertig vorbereitet?“, fragt die Prinzessin.
„Ja, wir mussten die Restfestung nur noch in Besitz nehmen. Kochstellen, Schlafkammern, Waschräume, alles was zum Leben benötigt wird, war vorhanden. So hatte die Halle vor dem Krieg nie ausgesehen. Man möchte den Eindruck gewinnen, dass, während wir schliefen, hunderte von Helfern um uns herum wuselten und alles herrichteten. Keiner hat bis heute dafür eine Erklärung finden können.“
Carissima mustert weiter die weite Halle. „Recht schmucklos alles.“
„Das ist wahr. Es ist schmucklos und sicher hätten wir uns auch um entsprechende Arbeiten gekümmert, doch keiner fühlte sich dazu berufen. Ehrlich gesagt, haben wir uns auch nicht sonderlich daran gestört. Wir waren alle Zeit beschäftigt, uns zu versorgen. Die wenige freie Zeit haben wir dann lieber gemeinsam verbracht. Viel zu sehr plagte uns die Frage, was geschehen war und welche Zeit vergangen war. Denn das war uns klar, der Krieg war nicht erst seit gestern vorbei.“
„Und weitere Räume hattet ihr nicht?“
„Nein, Prinzessin. Bis auf die Stallungen und wenige Nebenräume fand sich kein weiterer zugänglicher Raum. Das war auch das Wunder, dass erst durch eure Leute die Halle mit den Büchern gefunden wurde. Ungezählte Male sind wir an dem Zugang vorbei gegangen. Sehr oft wurde mit Hämmern nach Gängen oder Hohlräumen geklopft. Nichts erschloss sich uns. Es muss erst ein Zwerg aus Steinenaue kommen und mit dem Kopf daran stoßen, damit sich der Zugang öffnet.“
„Führt ihr mich bitte hin. Ich möchte mir selbstverständlich auch diese Halle ansehen.“, bittet Carissima.
„Wenn ihr es wünscht, natürlich gerne.“
Gemeinsam wandelt die kleine Gruppe in Richtung der Ställe durch die auch hier schmucklosen Gänge. Dann führt ein Weg nach links, wie es in Zwergenfestungen üblich ist. Der Überrest des früheren allumfassenden Wendelganges. Die Räume und Hallen liegen immer zur Linken der sie umwindenden Wege.
„Sagt, Dankwart, lagen hier eigentlich keine Trümmer herum? Es ist alles sehr aufgeräumt und frei, obwohl es nicht benutzt wirkt.“, fragt die Prinzessin.
„Ihr habt gut beobachtet. Tatsächlich war der Weg so frei auch schon zu seiner Entdeckung. Kein Stäubchen lag am Boden und das Brilium leuchtete wie wohl vor Jahrhunderten. Und wie ihr seht, gibt es hier auch ein wenig Zierde an den Wänden.“
Ab und an war rechts oder links an der Gangwand das Bild eines Zwergen oder einer Zwergin bei handwerklicher Tätigkeit oder bei kämpferischen Übungen.
„Einen Moment bitte, Dankwart. Das ist doch der Wegweiser zu den Übungsräumen der Krieger. Der aber sollte doch wohl deutlich weiter oben liegen. Ist dies eine Abkürzung?“
„Merkwürdig. Von dieser Stelle gab es noch nie einen direkten Weg dorthin. Was also soll hier ein Wegweiser dorthin?“, wundert sich der Angesprochene.
„Es gab diese Hinweise immer nur an den Stellen, die dem Eingang gegenüber waren und daneben waren die Hinweise, was als nächstes kommen würde. Solch einen Wegweiser alleine gab es niemals, Dankwart.“, mischt sich nun Anschild in die Unterhaltung. Leise für sich ergänzt er: „Der muss ganz neu sein.“ Dabei befühlt er den Stein als könne er daran das Alter des Hinweises erkennen.
„Ihr wolltet doch in die Halle, wo die Bücher gefunden wurden.“, fordert Dankwart Hammerfest zum weiter gehen auf. Innerlich ist er sehr irritiert.
Nach kurzer Zeit steht die Prinzessin vor den leeren Steinregalen, in denen das Wissen und die Geschichte der Zwerge gelagert waren. Der Gang endet kurz nach dem Bibliothekseingang, als sei er nie weiter getrieben worden.
Irgendwie enttäuscht blickt sich Carissima um. Sie hat sich etwas anderes von diesem Raum versprochen. Sie sieht, wie auch in Steinenaue den Tisch mit dem steinernen Relief des alten Reiches. Ähnliche Bänke für Schüler und Pulte für Lehrer. Nichts deutet auf eine Besonderheit in dieser Halle hin. Eine enttäuschte Prinzessin in Mitten der drei Männer wendet sich dem Ausgang zu. Dankwarts Frau Petrissa ist im Gemeinschaftsraum geblieben, um für ein gutes Abendessen zu sorgen. Carissima hat die oberste Reihe der Bänke erreicht und geht in Richtung der Tür, als etwas über ihr in einem Regal ihre Aufmerksamkeit erweckt. Ganz oben, auf dem letzten Regalboden blinzelt die Ecke eines Buches herab.
„Das muss wohl vergessen worden sein.“, ruft sie und zeigt mit dem Finger nach oben.
„Tatsächlich. Da muss noch ein Buch liegen. Ich bin mir absolut sicher, dass hier nicht eines zurück blieb. Und nun ist doch noch ein Buch hier.“
Dankwart ist grenzenlos überrascht. Aufträge erfüllt er stets gewissenhaft. Schier unmöglich, dass ihm etwas abhanden kommt oder übersehen wird.
„Anschild, hol bitte die Leiter dort. Ich will das Buch holen.“
Kaum ist sein Ziehsohn wieder zur Stelle, steigt er behände hinauf, auch das allerletzte Buch zu holen. Bevor er es sich nimmt, nutzt er die Gelegenheit, sich in dieser Höhe umzusehen. Er glaubt, seinen Augen nicht mehr trauen zu können. Genau gegenüber liegt an ebensolch hoher Stelle ein zweites Buch. Mit sich und seiner Auftragserfüllung äußerst unzufrieden eilt er, auch dieses Buch zu holen.
„Grund- und Aufriss der Festungen rund um den Wettergau auf dem Stande des 50. Regierungsjahres des Großkönigs Rainald Steinschneider. Band 1 und Band 2.“, kann jeder auf den Einbänden aus dickem Leder lesen. Es sind große und sehr schwere Bücher. Die Seiten darin bestehen aus dicken Pergamentbögen. Schlägt man die Bücher auf, so findet sich auf der rechten Seite der Grundriss der jeweiligen Festung, während die linke Seite Aufrisszeichnungen aus verschiedenen Blickwinkeln zeigen. Anschild und Dankwart haben sich sofort den ersten Band gegriffen. Darin ist Kleyberch verzeichnet. Aus ähnlichem Grund studieren Gernhelm und Carissima gerade den zweiten Band. Aufmerksam betrachten sie die Zeichnungen der werdenden Festung von Steinenaue.
„Hast du diesen Gang schon einmal gesehen?“, fragt die Prinzessin ihren Bruder und deutet auf den Plan. Hier wird ein Treppengang angegeben, der aus dem Schloss heraus bis tief unter die Arbeitsstollen führt, wo weitere Kammern bezeichnet sind. Einen Plan für da unten gibt es aber nicht in diesem Buch.
„Nein, den kenne ich auch nicht. Das ist doch direkt hinter dem Thronsaal. Ich hab da aber noch nie ein Tür gesehen oder einen Hinweis bemerkt, dass da eine Tür sein sollte. Ob Vater den Gang kennt? Und was es da unten wohl zu sehen gibt?“
Dann wendet er sich Dankwart und Anschild zu. „Findet ihr auch euch unbekannte Gänge von hier? Wir haben sowas in Steinenaue. Das werde ich mir ansehen, sobald wir wieder zurück sind.“
„Auf den ersten Blick sind da ganz viele Gänge, die ich nicht kenne.“, gibt Anschild kund und bekommt einen derben Schubser von Dankwart.
„Du bist nicht hier geboren und hattest keine Gelegenheit, den Berg zu erkunden. Nein, Prinz Gernhelm. Ich fand keinen unbekannten Gang. Und ich fand auch keinen Gang, der zu dem Hinweisschild vorhin passen würde.
Vielmehr aber wundert mich, dass ich derart große Bücher für den Abtransport übersehen haben soll und mich wundert noch mehr, dass es solche Bücher überhaupt gibt. Nie sprach unser König darüber, dass der frühere Großkönig alle Festungen hat in Karten zeichnen lassen. Es ist auch nie ein Zwerg aufgefallen,