„Aus Tradition ist bei solchen Treffen immer die rechte Hand des Vorstandvorsitzenden anwesend. Sie führt auch die geheimen Akten des Chefs.“
Fels notierte sich den Namen. K. Essig.
„Sie können ja selbst kein Interesse gegen sich selbst richten, Herr Kuczynski. Würden Sie mir helfen, diesen Mord, der in irgendeinem Zusammenhang mit Ihnen, und der Firma steht, aufklären zu helfen?“
„Das ist doch selbstverständlich!“
„Dazu muss ich Ihnen noch ein paar Fragen zu Ihrem beruflichen Umfeld stellen. Zunächst noch eine Routinefrage: Haben Sie Feinde oder Menschen, die Sie bedrohen können?“
„Ich lebe sehr zurückgezogen und bin für die Firma da. Ich kenne niemanden, der mich bedrohen könnte.“
Die Unterhaltung dauerte noch eine Weile. Fels notierte Daten über eine interessante zukunftsorientierte Industrie. Aus den Schilderungen ihres Gesprächpartners wurde deutlich, dass es möglicherweise für die Tat in Alfeld einen Hintergrund geben könnte, der weit über die Grenzen Deutschlands hinausgehen würde. Die Erwähnungen von chinesischen Aktivitäten und Schürfgebieten im Zusammenhang mit einem weltweiten Kampf um Seltene Erden regten nicht nur ihre Phantasie an, sondern bereiteten Gedanken vor, zusätzliche Stellen im Polizeiapparat in die Bearbeitung dieses merkwürdigen Mordfalles einzubeziehen. Hatte der Mord möglicherweise mit dem Kampf um diese Seltenen Erden zu tun? Es gibt nur dieses rote Auto, auch nur wahrscheinlich ein Panda. Keine Zulassungsnummer, keine sonstigen Hinweise.
Fels prüfte die erhaltenen Angaben. Beim Studium der Personaldaten von Frau Essig stellte sie fest, dass sie verheiratet und seit einigen Jahren geschieden war. Ihren jetzigen Namen hatte sie nicht immer. Während er Ehe hatte sie einen anderen Nachnamen, der auf eine Beziehung mit einem osteuropäischen Partner rückschließen ließ. Ihr Mädchenname war Uksusowa. Fels vermutete: Dieser Name kommt bestimmt aus einem Land der ehemaligen UdSSR. Essig ist schon seit über fünfzehn Jahren Assistentin von Steig, praktisch seit der Gründung. Sie kennt den Konzern mit Sicherheit sehr gut. Da muss ich jetzt nicht direkt tätig werden. Schließlich habe ich einen Mord in Alfeld aufzuklären. Krysztof Rybinski ist ja auch ein Name aus dem Osten. Da werde ich in Braunschweig Erkundigungen einholen. Stanislaw Kuszynski habe ich ja bereits kennengelernt. Dennoch werde ich sein Führungszeugnis anfordern.
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Im Turmzimmer war es still. Nur die leichten Anschläge der Tastatur eines Laptops erzeugten ein monotones Geräusch geringer Lautstärke. Wie Trippelschritte von leichten Vögeln auf hartem Untergrund wie einem Glasdach. Li Mei schrieb ihren täglichen Besuchsbericht. Seit einigen Jahren arbeitete sie für ein Projekt. Es trägt den Namen „Egg“.
Diese Projektbezeichnung ging auf die Idee zurück, die Position im Markt der Seltenen Erden als Marktführer zu bekleiden. Dazu gehörte nicht nur die Herrschaft über die entsprechenden Schürfgebiete, sondern auch die Steuerung und Kontrolle des allmählich wachsenden Recyclingmarktes. Die Kombination von Lagerstätten mit dem Recyclingmarkt erschien konsequent und erweckte den Eindruck, eine Kombination von Henne und Ei in einem Zuge gefunden zu haben. Daher der Name „Egg“. Diese Idee hatte Li Mei als Studentin überzeugt. Als ihr dann die Mitarbeit an dem Projekt angeboten wurde, zögerte sie nicht lange.
Auftrag und Anspruch des Auftraggebers richteten sich darauf, umfangreiche Informationen im Zusammenhang mit der Versorgung mit Seltenen Erden zu erhalten. Dazu gehörten nicht nur Ermittlungen über die Schürfrechte für die Rohstoffbeschaffung, sondern auch die Distribution der gewonnenen Rohstoffe in die unterschiedlichen Industrien und Branchen. Das Projekt betraf nicht nur die Beherrschung der Lagerstätten, sondern auch die Rückgewinnung, also das Recycling von diesen Rohstoffen aus allen denkbaren Kanälen, wie der Abfallwirtschaft, der Chemischen Industrie, die Chemikalien für die Trennung von Materialien liefern und auch größere Unternehmen, die digitale Geräte nutzen oder herstellen.
Li Mei war mit dieser Aufgabenstellung nicht alleine. Sie hatte viele Kolleginnen und Kollegen. Alle wussten, dass sie nicht alleine in diesem Geschäft waren, kannten sich aber nicht persönlich. Sie waren weltweit auf Marktgebiete aufgeteilt und schrieben ihre Berichte. Diese landeten auf einer Datenbank. Man kannte nur eine Internet-Adresse, keine Personen, die die Daten interpretieren, niemand, mit dem man direkt sprechen konnte.
Es gab ein (CMS) Content-Management-System, in dem die Kompetenzen vom Auftraggeber des Egg-Projektes festgelegt wurden. Bezahlt wurde man für die Berichte. Mogeln war unmöglich, weil die Datenbank jeweils Vorgaben über die Berichtsfolge machte und umfangreiche Plausibilitätsprüfungen vornahm. Wenn jemand versuchte, zu pfuschen, erhielt er keine Aufträge und damit auch keine Vergütung mehr. Zudem würde er im Internet in allen Sozialen Medien als nicht zuverlässige Person gebrandmarkt. Li Mei wusste das und wollte es nicht auf diesen Grenzfall ankommen lassen. Wenn sie die vertraglichen Vereinbarungen nicht einhalten würde, würde man sie im Internet bloßstellen. Sie würde dann nie mehr woanders eine Anstellung bekommen. So musste sie sich weiterhin an die notwendige Disziplin halten.
Ihr aktueller Auftrag bestand darin, alle bekannten Anwender von Seltenen Erden in ihrem Marktgebiet zu interviewen und deren direkten Bedarf sowie den der entsprechenden Kundschaft zu erforschen. Dazu gehörte auch die Ermittlung von Recyclingaktivitäten. Dieser Bereich war erst seit kurzer Zeit Bestandteil ihrer Aufgaben, weil dieser Teilmarkt spürbare Wachstumsraten aufwies. Bei diesen Kundenkontakten übermittelte sie die jeweiligen Lieferkonditionen. So wie bei Steig.
Heute schrieb sie den Bericht über die Steig AG. Zuvor hatte sie die Firma Ebon AG, einen international tätigen Chemiekonzern, der zahlreiche moderne Digitalgeräte im Einsatz hatte, besucht. Überall wurden dort hochwertige Rohstoffe aus dem Bereich der Seltenen Erden verarbeitet. Dieser Konzern hatte eine eigene Recyclingfirma ins Leben gerufen. Die beschäftigte sich im Schwerpunkt mit der Entsorgung Technischer Geräte.
Hier in Hannover hatte Li Mei vor langer Zeit das Vertrauen und die Zuneigung des Inhabers der Steig AG gewonnen. Sie erinnerte sich gerne an eine Reihe von Begegnungen mit ihm in diesem Turmzimmer. Sie ahnte, dass Steig an diesem Abend noch zu ihr kommen würde, auch wenn sie ihm die Veränderung der Einkaufskonditionen hatte mitteilen müssen. Er war sehr freundlich und hatte bisher keine Fragen nach ihrem beruflichen Umfeld gestellt. Das machte ihn sympathisch.
Sie drückte auf „Senden“. Ihr Bericht war fertig. Sie dachte, ein stilles Wasser genießend, über die Bedeutung ihres Vertragsverhältnisses nach: Es hat schon etwas Zwanghaftes. Es lebt von einer einseitigen Machtstruktur. Es muss Kollegen geben, die für die Überwachung der Interviewer eingesetzt werden. Das würde bedeuten, dass sie auch in den Märkten unterwegs sein müssen, also auch hier. Es könnte also sein, ist sogar sehr wahrscheinlich, dass es Kontrolleure gibt, die die Interviewer unerkannt überwachen. Die alleinige Überprüfung der elektronischen Mitteilungen über das Internet wäre zu unsicher. Das ist ein ausgeklügeltes System. Daran kann ich selbst nichts ändern.
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Sie öffnete und ließ sich von Steig in die Arme nehmen.
Vor einem nahe gelegenen kleinen Hotel parkte ein roter Panda. Der Fahrer, ein kleiner sportlicher Mann, nahm gesundheitsbewusst eine eiweißhaltige Nahrung im Restaurant des Hotels zu sich. Nach dem Essen zog er sich in sein Zimmer zurück und beantwortete einen Anruf auf seinem Mobiltelefon.
„Sicherlich, Herr Professor, ich habe Verständnis dafür, dass ich jetzt in diesem Hotel untergebracht bin. Die anstehenden Aufgaben habe ich alle gelöst und berichtet.“
„Ich freue mich, Jim, dass Sie das einsehen. Wir bleiben dann über den üblichen Informationsweg in Kontakt.“
„Verstanden, Herr Professor.“
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Seit Beginn seiner Tätigkeit bei der Steig AG wohnte Jens in Hannover. Es war eine kleine Wohnung, die er drei Monate nach Beginn seines Arbeitsvertrages mit der Steig AG