Steig bedankte sich nach weiteren Ausführungen des Gastes und dem abschließenden Frage- und Antwortspiel für dessen Vortrag und beendete die Sitzung mit einem Schlusswort:
„Diese Präsentation zeigt uns neue Wege für den Bereich Messgeräte auf. Dafür sprechen auch schon erste Reaktionen vom Markt. Das bringt neue Anforderungen, die wir zu kanalisieren haben. Das hat selbstverständlich auch Einfluss auf unsere Organisation. Damit gebe ich bekannt, dass wir die zukünftige Marktbearbeitung auf höchster Ebene personifizieren werden. Herr Jens als Direktor Marketing wird den Bereich Chemie- und Pharmaindustrie sowie Entsorgung übernehmen und Herr Doering übernimmt weiterhin den Bereich Medizin, Krankenhäuser und Laborunternehmen. Weitere Fragen oder Anregungen werden wir in Einzelgesprächen erörtern. Falls jetzt keine weiteren Fragen bestehen, nehmen Sie bitte die Unterlagen, die Professor Stiller für uns vorbereitet hat, an sich und studieren sie, damit wir bei den nächsten Gesprächen einen gleichen Informationsstand haben.“
Die Sitzung war damit beendet.
Jens nahm die angesprochenen Unterlagen an sich. Er konnte gerade noch sehen, dass der Professor Schuhe trug, deren Absätze schief abgelaufen waren. Sein Laptop begleitete ihn zurück zu seinem Büro.
Es wurde Zeit, den Akku zu laden.
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Braunschweig, Donaustraße. Unleserliche Hausnummer. Zweite Etage. Vier-Zimmer-Wohnung. Klingelschild. Krysztof Rybinski. Agent. Als Mieter dieser Wohnung blickte er auf eine lange Zeit als Steward bei der polnischen Fluggesellschaft Polskie Linie Lotnicze LOT zurück. Vor fünf Jahren wurde sein Arbeitsverhältnis beendet, nachdem er viele Jahre im internationalen Flugverkehr weltweit unterwegs gewesen war. In jedem Zielort der LOT hatte er sich als geschäftstüchtiger Geist bemüht, Chancen für zukünftige Geschäfte zu erkennen und je nach Lage der Umstände auch zu nutzen. Das Ergebnis seiner Suche erstreckte sich auf zwei Schwerpunkte. Einerseits hatte er ein Vorstandmitglied er polnischen Bank Narodowy Bank Polski kennengelernt und diesen mit seinen guten deutschen Sprachkenntnissen davon überzeugt, dass er als freier Mitarbeiter die Interessen dieser Bank in Deutschland vertreten können würde. Seit diesem Treffen nannte er sich Agent der Bank und arbeitete daran, sie bekannt zu machen.
Andererseits hatte er in Südamerika und in Ländern des Vorderen Orients Verbindungen geknüpft, die ihm die Möglichkeiten einräumten, Kurierwege für unterschiedliche Drogen zu organisieren. Ein einträgliches Nebengeschäft, bei dem man sich die Hände nicht schmutzig machen konnte. Rybinski verstand sich bei diesem Geschäft als reiner Vermittler von logistischen Wegen. Seine Methode war simpel. Er besuchte verschiedene Stellen, an denen sich Menschen trafen, um Briefe oder Pakete zu versenden oder zu empfangen. Diejenigen, die das öfter taten, interessierten ihn besonders.
Als Agent der polnischen Bank hatte er in Absprache mit dem Vorstand eine Anzeige in landesweit erscheinenden Zeitungen geschaltet:
Investitionsentscheidungen ?
Beteiligungen, Kauf oder Gründung?
Wir helfen Ihnen!
Krysztof Rybinski
Mobilfon: 0177-9898765
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In einer ehemaligen Wartungshalle für Dienstfahrzeuge der Stadt hinter dem Hauptbahnhof hatte eine junge Firma eine Sport- und Fitnesshalle eingerichtet. Dort wurden neben einigen Fitnessprogrammen auch Kampfsportarten angeboten. Das Engagement der Gründer dieser Firma ist von der ICBC Europe Bank in Luxemburg finanziert worden. Der kleine Mann aus der Lobby des Hotels Luisenhof hatte den roten Panda auf dem Parkplatz dieser Firma abgestellt. Er hatte vor wenigen Tagen eine Trainingseinheit Budo gebucht. Der Trainer kannte ihn kaum, wusste aber, dass er besondere Beziehungen zu haben schien. Er nannte sich Jim. Er hatte das ausschließliche Recht, einen für niemanden zugänglichen Raum hinter den Trainingsräumen zu betreten. Nach seinem Training betrat der Pandafahrer regelmäßig diesen elektronisch verriegelten Nebenraum. Er hatte einen Zugangschip. Diesen Chip hatte sonst keiner in der Firma. Selbst das Management nicht. Das war vor Gründung der Firma eine Bedingung für die Finanzierung.
Der kleine Mann ohne Nachnamen blieb einige Stunden in diesem Raum. Dessen Ausstattung bestand aus einer Gruppe von Servern und einigen Bildschirmen. Er rief routinemäßig einige Programme auf und studierte die dort dargestellten Daten. Nach einiger Zeit holte er eine SSD (Solid-State-Drive) mit hoher Kapazität aus der Tasche seiner Jacke und kopierte einige Daten. Als die Diode des externen Speichers das Ende des Kopierprozesses anzeigte, rief er seine Zugangsdaten für das System auf und änderte diese, weil er als Super Administrator verzeichnet und seine Zugangsdaten nach jeder Sitzung zu ändern verpflichtet war. Zudem gab er einen neuen Verschlüsselungscode ein. Langsam verließ er den Raum, verriegelte ihn elektronisch und fuhr mit seinem Kleinwagen von dem Gelände.
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Die von Stiller ausgelegten Unterlagen waren umfangreich. Jens studierte sie und weitere zum Themenkreis aus dem Internet. Er war in seiner Wohnung und hörte die Nachrichten. Dabei fiel ihm eine Kurzmitteilung auf:
„In der nordkanadischen Wildnis, nahe dem Großen Sklavensee, liegt ein Landstrich, den die Ureinwohner Nechalacho nennen. Vor einiger Zeit hat dort ein Geologe eine Option auf Schürfrechte in einem Areal von nennenswerter Größe erhalten. Es birgt ein nennenswertes Volumen von Seltenen Erden.“
Ein Name wurde nicht genannt. Ein Geologe. Ohne Namen. Jens grübelte. Das klingt nach Geheimnistuerei. Warum wird da kein Name erwähnt? Die dortigen Seltenen Erden sind auch nicht spezifiziert. Das ist keine vollständige Information. Dafür wird es bestimmt Gründe geben. Man kann ja nicht immer jede Information gleich herausgeben. Ich muss das recherchieren. Irgendwie könnte unsere Firma ja davon betroffen sein. Vielleicht ist der Geologe ein Chinese, ein getarnter? Schließlich haben die Chinesen ja weltweit den größten Zugriff auf Seltenen Erden. Vielleicht steckt aber auch ein anderes Unternehmen dahinter? Ich kenne mich in diesem Markt noch gar nicht genug aus.
Die Unterlagen von Stiller enthielten im Kern den Inhalt seines Referates und Erläuterungen über verschiedene Anwendungsgebiete der Seltenen Erden. Jens fand seine Kenntnisse hierüber weitgehend bestätigt. Als Marketing Manager der Steig AG stand er für die Positionierung des Unternehmens als Pionier der allerneuesten Technologien in der digitalen Welt, unter anderem auch in der Messtechnik. Auch für das ziemlich neue Gebiet der Augmented Reality. Jens überlegte: Hier werden virtuelle und reale Wirklichkeit für mobile Geräte miteinander kombiniert und überlagert. Da muss ich noch recherchieren. Das kann die Zukunft sein. Aber jetzt geht es um die digitale Messtechnik. Ich freue mich für die Steig AG seit mehr als drei Jahren arbeiten zu können. Es ist eine spannende Aufgabe, für Innovationen tätig sein zu können. Ich recherchiere noch ein wenig im Internet weiter. Ich war noch nie in Kanada. Vielleicht kommt das ja noch. Ich würde mich freuen. Ob die Chinesen getarnt in Kanada tätig sind? Oder die Russen? Die Chinesen haben ja schon fast ein Monopol bei den Seltenen Erden.
Im Labor der Steig AG waren Kenntnisse über die Anwendung von Lithium, Indium und Gallium und andere Seltenen Erden seit einiger Zeit vorhanden. In der bisherigen Zusammenarbeit mit Professor Stiller waren bereits Prototypen neuer Analysesensoren unter Verwendung dieser Kenntnisse entwickelt worden. Sie wurden zusammen mit einer begrenzten Anzahl von Kunden, Krankenhäusern und medizinischen Laboratorien, im Feldversuch getestet.
Jens fand seine Befürchtung über die Marktmacht der Chinesen in einem Bericht der Wirtschaftsnachrichten bestätigt. Chinesische Unternehmen sind stark daran interessiert, die Versorgung mit Seltenen Erden zu kontingentieren, also abzugrenzen, oder besser zuzuteilen.
Er folgerte. Das wird einen schwer kalkulierbaren Einfluss auf die Entwicklung der Kosten und damit der Preise unserer Produkte haben. Ein chinesisches Monopol könnte die Entwicklung der Steig AG deutlich beeinträchtigen. Ich muss untersuchen, ob und wie diese mögliche Abhängigkeit eingegrenzt werden kann.