Nille war immer noch mit einem Morgenrock bekleidet, als er dem Hauptkommissar die Wohnungstür öffnete. Sein Äußeres wirkte auf den Hauptkommissar, wie das eines gerade aus dem Bett Geklingelten, seine Fahne wie die, eines gerade erst ins Bett Gegangenen. Passend zu beiden Optionen Heikos Reaktion.
„Oh, Sie, Herr Kommissar! Ist was passiert?“
Steiner schnaubte. „Was passiert ist, dürfte ja wohl reichen,“ und spazierte unaufgefordert durch die Tür den Gang hindurch bis ins Wohnzimmer, wo er sich genauso uneingeladen in einen Sessel setzte. Nille war ihm hilflos und perplex gefolgt, fand aber nicht die Kraft, irgendwie gegen Steiners selbstherrliches Auftreten zu opponieren, sondern ließ sich selber auf sein Sofa nieder. Harald erfasste mit einem Augenaufschlag den Grund für Nilles Zustand, der auf dem Salontisch stand. Daher seine Bemerkung: „Sie scheinen schwer an Frau Jahns Tod zu tragen.“
Fast schon über diese Feststellung Steiners erleichtert, antwortete Heiko: „Ja, das sehen Sie richtig.“
„Nun, ich bin nicht hier, um Ihnen über Ihren Schmerz hinwegzuhelfen. Dazu fehlen mir augenblicklich das Feingefühl und die Zeit. Ich bin hier, um Sie zu bitten, mir Einblick in Angelas privaten Nachlass nehmen zu lassen, eventuell auch mir zu erlauben, mir wichtig erscheinende Dinge daraus mitzunehmen. Wären Sie damit einverstanden? Ich darf doch annehmen, dass sie ihre gesamte Habe bei ihrem Einzug bei Ihnen eingelagert hat.“
Heiko zögerte und überlegte. Angela hatte nie mitbekommen, womit er sein Geld machte. Für ihre geschäftlichen und privaten Papiere hatte er ihr ein verwaistes Schlafzimmer zur Verfügung gestellt, das so zu ihrem Arbeitszimmer geworden war. Die Möbel aus ihrer alten Wohnung hatte er in eine der beiden hinter dem Haus befindlichen Garagenboxen einlagern lassen. Einige kleinere Utensilien hatten eine vorläufige Bleibe auf dem Dachboden gefunden. Nur ihre Kleider und ihr Make-up hatte sie in ihrem zum gemeinsamen Schlafgemach gewordenen Zimmer untergebracht. Im Badezimmer befanden sich auch noch einige Sachen von ihr. Unter dem Strich gab es keinen Grund, dem Ermittler diesen Wunsch zu verwehren, zumal in allen diesen Räumen nichts zu finden war, was auf Heikos Geschäfte hinwies. So kurz diese Reflexionen auch waren, Harald hatte sie irgendwie unausgesprochen wahrgenommen.
„Selbstverständlich dürfen Sie das.“ Er erhob sich träge und redete weiter: „Folgen Sie mir bitte.“ Was Steiner auch tat. Zunächst führte ihn Nille in Angelas Arbeitszimmer. „Sehen Sie sich in aller Ruhe um, Herr Kommissar. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich mich in der Zwischenzeit frisch machen und mich anziehen.“
Das hätte natürlich auch der Versuch Nilles sein können, schnell das wegzuräumen, was ihn aus Angelas Besitz als potenziellen Urheber ihrer Ermordung in Verdacht bringen konnte. Allerdings wussten beide Männer, dass diese Annahme unsinnig war, denn Heiko hätte genau das bereits vor dem Mord getan. Also sah sich Steiner nicht veranlasst, einen Einwand zu erheben, der ihm in der momentanen Situation ohnehin nicht zustand vorzubringen.
Heiko beeilte sich mit seiner Morgentoilette und dem Ankleiden. Provisorisch strich er die Bettbezüge glatt, kehrte in den Raum zurück, in dem er den Polizisten zurückgelassen hatte, und fragte: „Kaffee? Espresso?“
Harald schaute auf seine Armbanduhr. Es war Viertel nach zwölf, eigentlich Essenszeit. Aber er hatte kein Hungergefühl. Kaffee war ihm recht. Also schlurfte Nille zur Küche.
Steiner hatte inzwischen einige Schubladen in Angelas Büro durchforstet. Prospekte jüngeren Datums über Einrichtungen und Gegenstände für Frisiersalons und dergleichen überwogen. Nur ein Ordner, - wenn auch schon ziemlich gut gefüllt -, hatte mit dem gesamten Gründungsverfahren für den neuen Salon zu tun. Des Weiteren fand er eine Korrespondenzmappe, die ebenfalls mit der Geschäftsgründung zu tun hatte. Echt private Niederschriften konnte er nicht ausfindig machen, obschon er sich sicher war, dass es die gegeben haben musste. Dann kam Nille erneut ins Zimmer und verkündete, der Kaffee warte in der Küche auf seine Abnehmer. Steiner folgte dem Hausherrn in die Küche, die, wie er es erwartet hatte, rundum bestens ausgestattet war und natürlich nicht von einem x-beliebigen Hersteller stammen konnte. Heiko hatte die Tassen auf der Küchentheke platziert, um die herum acht barhockerähnliche Sitzgelegenheiten standen. Als sich beide vor ihren gefüllten Tassen gegenüber saßen, - Nille war in einem dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd, aber ohne Krawatte gehüllt und sah nun durchaus agiler aus als dreißig Minuten zuvor -, fragte er den Hauptkommissar: „Haben Sie inzwischen etwas herausgefunden?“
Zum Glück hatten die Hocker Rückenlehnen, sodass sich Harald gewichtig nach hinten zurückgleiten lassen konnte, um seiner anstehenden Ansprache den ebenso gewichtigen Anstrich verpassen zu können.
„Herr Nille, grosso modo rühren wir immer noch im Trüben. Haben wir es mit einem Irren zu tun, dem Frau Jahn zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort über den Weg gelaufen ist? Möglich! Aber ein solcher Verrückter wird schnell lokalisiert sein. Sie haben ja selber die Filmaufnahmen und die Phantombilder gesehen. Morgen früh werden diese Bilder in allen lokalen Zeitungen und in vielen überregionalen Blättern erscheinen und vermutlich zur besten Sendezeit auch übers Fernsehen flimmern.“ Nille ließ einen Laut der Erleichterung vernehmen, um sogleich darauf den Dämpfer zu erfahren. „Ich hingegen glaube nicht an einen Schwachkopf als Täter. Es gibt genügend Hinweise auf andere Motive.“
„Ach!“ stöhnte Heiko zu ängstlich, als dass das Ach nach Überraschung klang.
„Was wir über Frau Jahns bisheriges Leben, Tun und Sein wissen, ist noch sehr vage. Sicher ist nur, dass es da einige Ansätze gegeben hat, die sie bis in die Gegenwart verfolgt haben könnten. Insbesondere eine Geschichte aus ihren Lehrjahren in Kassel wird unsererseits eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet. Dann wäre da eventuell das Nicht- oder Wohlwissen ihres letzten Arbeitgebers über ihre Planungen zur Eröffnung eines eigenen Salons genauer zu untersuchen. Aber, - und das möchte ich Ihnen gegenüber keinesfalls verhehlen -, auch ihre Beziehung zu Ihnen erscheint uns in einem erweiterten Kontext nicht verwahrlosbar.“
Nille schien für den Bruchteil einer Sekunde zusammenzuzucken. Auch der Erpresser hatte Angelas Ermordung in seinem letzten Telefonat hervorgehoben. Er fing sich aber wieder, ehe Steiner seine Reaktion überhaupt hatte wahrnehmen können. „Worin soll denn da die Ursache zu finden sein?“
Steiner nahm kaum ein Blatt vor seinen Mund, als er darauf einging. „Betrachten Sie es mal von einer externen, neutralen Position, Herr Nille. Sie sind nicht gerade im Reichtum hineingeboren worden. Alles, was Sie heute besitzen, ist das Resultat Ihrer ökonomischen Aktivitäten.“ Heiko nickte dezent und zustimmend. „Wir fragen uns, inwiefern Frau Jahn in Ihren Aktivitäten involviert war, aber insbesondere, woraus diese detailliert resultieren.“
Offenbar vom Koffein wieder etwas alerter geworden, erwiderte der Angesprochene: „Meine Buchführung ist korrekt, und ich habe keine Veranlassung, sie Ihnen vorzuenthalten.“
„Sehr lobenswert,“ äußerte sich Steiner in einem Tonfall, der so aufrichtig klang, dass man ihm das auch als aufrichtig gemeint abzunehmen geneigt sein musste, „Aber es sind nicht immer die Bücher, die rundum Auskunft über den Gang der Dinge erteilen. Wie wäre es mit bösen Differenzen? Auch solchen Dingen werden wir nachgehen müssen.“
Heiko hob seine Schultern lang angezogen hoch. „Ich habe nichts zu verbergen, wüsste aber auch beim besten Willen nicht, wieso meine Geschäfte einen solch brutalen Mord ausgelöst haben könnten.“
„Ich auch nicht, Herr Nille,“ entgegnete Harald, als sei seine vorherige Aussage nur eine von vielen seiner in der Schwebe baumelnden Überlegungen gewesen. „Übrigens, was mich auch interessiert, sind Ihre früheren Beziehungen. Oder sind Sie vor Ihrer Begegnung mit Frau Jahn wie ein Mönch durchs Leben gewandelt?“
Heiko musste kurz auflachen. Er und ein Kostverächter!? „Nein, Herr Kommissar, Frauen haben mich immer schon interessiert, - jedenfalls seitdem ich meine erste Erektion hatte. Allerdings, sobald ich mich gut mit einer Schnecke verstanden habe, bin ich ihr auch treu geblieben.“
„Das hört sich aber zweideutig an,“ warf der Kriminalbeamte ein. „Es hört sich nämlich so an, als seien Sie mehreren Ihrer ‚Schnecken’ dann doch abtrünnig geworden.“
Auch