„Bitte nicht jetzt,“ lallte Nille.
„Jetzt ist aber der beste Zeitpunkt, das Geschäft in Kannen und Krügen zu gießen. Doch sei beruhigt. Ich bin ja kein Unmensch. Du sollst dich erst einmal von deinem gestrigen Alkoholexzess bis zum Abend erholen können, vorausgesetzt, du lässt jetzt erst einmal das Trinken sein. Wir erwarten dich dann um 20 Uhr im Lugano. Du weißt, wo das ist?“
„Ja, ja!“ Heiko hörte sich schon etwas wacher, aber keineswegs munterer an. „Irgendwo beim Hansaring. Aber das Geld kann ich so schnell nicht in bar auftreiben.“
„Darum geht es jetzt auch noch nicht,“ sprach der Anrufer in ruhigem Ton. „Wir wollen erst einmal die Modalitäten auf Augenhöhe verhandeln.“
„Verhandeln?“ kam es höhnisch über Heikos Lippen.
„Tja, mein Freund, jetzt, wo deine Schnalle das Zeitliche gesegnet hat, sind die Karten noch anders gemischt als vorher.“
„Ja, aber…“ Mehr konnte Nille nicht sagen, weil er unterbrochen wurde.
„20 Uhr im Lugano.“ Es knackte in der Leitung. Der Anrufer hatte aufgelegt.
Monika hatte von Harald die wenig beneidenswerte Aufgabe erhalten, die Eltern von Angela Jahn anzurufen und sie über das Ableben ihrer Tochter zu unterrichten. Eigentlich hätte die Kripo Köln eine andere Form der Informationsweitergabe wählen können oder gar müssen, nämlich die über die Polizei Kassel. Aber Steiner hatte sich fest vorgenommen, alle eventuell relevanten Kontaktnahmen nur über sein Büro laufen zu lassen. Da er aber schon auf dem Weg zu Maître André war, der in Wirklichkeit Andreas Zeisler hieß, hatte er diesen Part seiner Frau übertragen.
Weil Peter Jahn (54) auf der Arbeit war, erreichte Monika Steiner nur seine Frau Magda (52). Andersherum wäre vermutlich besser gewesen, denn was diese Mutter nun in ihrem Leid alles von sich gab, forderte von der jungen Kriminalassistentin das Können eines Psychologen oder Seelsorgers ab. Irgendwann sah sie sich genötigt, die Frau zu bitten, umgehend ihren Mann anzurufen und ihn zu informieren, damit sie sich endlich dieses lästigen Gesprächs entledigen konnte. Das erwies sich als ein geschickter Schachzug. Zehn Minuten nach Beendigung des Telefonats mit Frau Magda Jahn rief Peter Jahn auf Monikas Anschluss an. Auch er vermittelte den Eindruck eines Fassungslosen, gewann aber nach dem Austausch einiger Sätze den Boden der Realitäten wieder.
„Wenn ich das richtig sehe, wissen Sie noch nicht, wer den Mord begangen hat.“
„Das sehen Sie richtig,“ bestätigte Monika. „Wir haben sehr gute Indikationen, was den Täter angeht. Hauptkommissar Steiner geht von einer Person aus, die aus dem südeuropäischen Raum oder dem Orient stammt. Den bisherigen Ermittlungen zufolge ist er nicht älter als 25, trägt einen Vollbart und dürfte etwa 1,75 bis 1,80 Meter groß sein. Können Sie mit dieser Beschreibung etwas anfangen? Vielleicht ein ehemaliger Freier Ihrer Tochter?“
„Meine Tochter und ein Albaner oder so?“ Aus Jahns Worten triefte regelrecht die Verachtung. „Angela hatte nur eines im Kopf: Ganz schnell ganz reich und berühmt werden. Ein nobeler Vorsatz, aber ziemlich unrealistisch. Allerdings implizierte das bei der Wahl ihrer Verehrer einen gewissen Besitzstand. Sicherlich gibt es auch reiche Leute auf dem Balkan, aber die werden sich doch nicht zu einer solchen Tat herablassen. Zudem ist mir nichts über eine Relation Angelas mit einem solchen Mann bekannt. Hier in Kassel hatte sie vor drei Jahren einen Freund, der ein Brautmodengeschäft betrieb. Das ist aber ein Einheimischer, und der Nächste, mit dem sie meines Wissens so richtig angebändelt hat, war dieser Heiko Nille in Köln. Sie könnte jedoch zwischendurch einige Affären mit Männern gehabt haben, aber bestimmt nicht mit solchen ohne Geld. Verstehen Sie?“
Monika verstand, sah aber nicht, weshalb ein Südeuropäer demzufolge nicht als Freier in Frage kommen sollte. „Sie kennen Heiko Nille persönlich?“
„Ja, Angela hatte ihn meiner Frau und mir vor einigen Monaten vorgestellt. Der Mann hat Manieren, stellten wir fest, weshalb wir wirklich keine Einwände gegen die Verlobung der beiden hatten.“
„Vor allem hat der Mann Geld,“ konnte sich Monika nicht verkneifen zu sagen. „Hat er Ihnen auch gesagt, wie er an sein Vermögen gekommen ist und womit er sein Geld verdient?“
„Er treibt im großen Stil Handel mit Autos und Autoteilen. Genau hinterfragt haben wir das nicht. Ich hätte eh nichts davon kapiert. Das ist nicht meine Branche.“
„Wir haben einen Aktenvermerk zu Ihrer Tochter, laut der sie von einem Jugendgericht wegen einer aggressiven Handlung zu einer geringfügigen Strafe verurteilt worden war. Können Sie mir etwas Genaueres dazu sagen.“
„Eine leidige Geschichte, Frau Kommissarin.“ Anscheinend empfand Jahn den Vorfall tatsächlich als leidig, denn er seufzte hörbar laut und einige Sekunden anhaltend. „Während ihrer Lehre hatte sie laufend Ärger mit einer anderen Auszubildenden, die sie mobbte, wo es nur ging. Irgendwann riss bei Angela der Geduldsfaden und sie hat das Mädchen mit einer Schere angegriffen. Ihr Meister konnte das Schlimmste verhindern.“
„Wie hieß die Auszubildende?“ wollte Monika wissen.
„Frau Mink,“ Monika nannte sich im Dienst immer noch Mink, was ihr Mädchenname war, „wie das Gör heißt, ist mir längst entfallen. Ich weiß nur, sie hat Angela später immer noch Probleme besorgt. Wohl weil ihr Meister sie nach dem Vorfall gefeuert hat.“
Andreas Zeisler (34) zeigte sich von der Nachricht über Angelas Ermordung so sehr betroffen, dass er abrupt mit seinen kreativen Bemühungen an der Haarpracht einer seiner treuesten Kundinnen stoppte und sehr zum Missfallen dieser Madame eine seiner Gesellinnen anwies, die Prozedur fortzusetzen. Er bat Steiner, ihm in sein Büro zu folgen. Das war genauso elitär eingerichtet wie der Salon. Der Schreibtisch bestand aus einer massiven, durchsichtigen Glasplatte, die vollkommen aufgeräumt und sauber wirkte, als wäre sie noch nie benutzt worden. Sie wurde von einem filigranen, bronzenen Drahtflechtwerk getragen. Der Drehstuhl dahinter sah aus wie eine halbierte übergroße Eierschale aus weißem Kunststoff mit einem durchgehenden braunen Kordpolster als Sitz und Rückenlehne. Ganz ähnlich die beiden Besucherstühle vor dem Tisch. An sonstigem Mobiliar gab es noch einige Vitrinenschränke, deren Funktion auch nur dekorativer Art war. Zeisler bot dem Kriminalbeamten einen Platz an und setzte sich auf den Drehstuhl.
„Ermordet, sagten Sie? Das kann doch gar nicht sein. Wer sollte sie denn ermorden wollen?“
„Das fragen wir uns natürlich auch,“ erwiderte Harald. „Und um uns ein Bild über ein mögliches Tatmotiv zu machen, tauchen wir nun intensiv in ihr Umfeld ein. Zunächst einmal würde ich gerne von Ihnen wissen, was Sie über Angela Jahn zu erzählen haben.“
„Da gibt es eigentlich wenig zu erzählen,“ äußerte sich Maître André. „Sie bewarb sich vor etwas mehr als zwei Jahren bei uns. Da hatte sie noch kurz vor der Meisterprüfung gestanden. Ich stellte sie auf Probe ein und stellte ihr eine Festanstellung in Aussicht, wenn sie den Meisterbrief erhalten würde. In der Regel rekrutieren wir unser Personal aus dem von uns selber ausgebildeten Lehrlingsbestand. Da weiß man dann genau, was man an ihnen hat. Dummerweise waren zu der Zeit unsere Lehrlinge nicht von der Geschicklichkeit, dass wir sie später hätten übernehmen wollen. Also kam uns die Angela ganz recht, und sie überraschte uns mit ihren Qualitäten, ihrem enormen Fleiß, ihrer Hingabe fürs Metier und ihrer besonders gelungenen Art, Kunden zu unterhalten. Wir boten ihr also eine Feststelle an und haben es nie bereut.“
„Sie sprechen laufend im Plural. Wen meinen Sie mit wir und uns?“ interpellierte der Hauptkommissar.
„Wir, das sind meine Frau und ich. Hetty, also meine Frau, ist Mitinhaberin und arbeitet halbtags im Salon mit. Momentan ist sie nicht hier,“ erklärte Zeisler.
„Schön, dann fahren Sie bitte fort.“
„Angela machte sich so gut, dass wir ihr auf Dauer immer mehr Verantwortung anvertrauten. Normalerweise schlossen wir den Salon immer im Januar und im Juli jeweils während zwei Wochen wegen unserer Urlaube. Doch dann haben wir versucht, das Geschäft unter ihrer Regie während unserer Abwesenheit offen zu lassen und waren angenehm