Nille gab bereitwillig und von sich aus sogar umfassend Auskunft. Bis 10 habe er geschäftliche Telefonate geführt und E-Mails versandt. Um 10 sei er in ein nahe gelegenes Sonnenstudio gegangen. Ab 11 habe er von zuhause aus wieder geschäftlich telefoniert. Gegen zwölf sei er in ein Restaurant zum Mittagessen gewesen. Dann habe er ab etwa halb zwei wieder telefoniert und auf dem Computer rumgeklimpert. Und nein, er hätte Angela an diesem Tag nicht vor 21 Uhr zurück erwartet, weshalb er für sich ein Fischfilet zum Abendessen in den Backofen geschoben hatte, kurz bevor Steiner bei ihm angeklingelt hatte.
„Sie sagten, Ihre Freundin habe beabsichtigt, sich selbständig zu machen. Wusste ihr jetziger Chef davon?“ wechselte der Hauptkommissar das Thema.
Heiko erklärte, warum „Maître André“ nichts von Angelas Zukunftsplänen wusste, und war sich sicher, dass er es bislang auch nicht anderwärtig erfahren haben dürfte.
„Gab es Drohungen gegen Frau Jahn, oder sind Ihnen Leute bekannt, die ihr besonders missgünstig begegnet sind?“ fuhr Steiner fort.
Davon war Nille nichts bekannt. Dann wurden ihm die Passagen über die Jahn aus den polizeilichen Akten vorgelesen. Sowohl sein Erstaunen wirkte echt, als auch seine Erwiderung, niemals von diesen Vorgängen etwas gehört zu haben. Also befand es Harald für sinnvoll, Nille in die Gelegenheit zu versetzen, auf seine Art die Person Angela Jahn zu skizzieren. Zusammenfassend liefen Heikos Bewertungen auf ausschließlich positive Begriffe wie empfindsam, leicht schüchtern, lebenslustig, fleißig und ehrlich hinaus. Weiter ging es mit Angelas Verwandtschaft. Ja, Heiko hatte einige Male mit Angela ihre Eltern und Geschwister besucht. Allesamt biedere Leute, meinte er, festgestellt zu haben, die im Übrigen auch keine Einwände gegen Angelas Beziehung zu ihm hatten. Doch dann traf Steiner den wundesten Punkt.
„Sie sagten soeben, Sie hätten heute sehr viel Zeit von zuhause aus beruflich telefoniert und am PC verbracht. Was ist denn eigentlich ihr Metier?“
Noch konnte diese Frage den jungen Mann nicht aus der Ruhe bringen. „Ich handele in gebrauchten Autos und Autoersatzteilen.“
„Von zuhause aus?“ wiederholte sich Harald.
„Wir leben in einer Zeit der Telekommunikation und der elektronischen Datenübertragung,“ rechtfertigte sich Nille gelassen. „Da ist es nicht mehr zwingend, sich selber fortzubewegen oder eigene Lagerbestände anzulegen und zu unterhalten, um Geld zu machen.“
„Was Sie nicht sagen,“ sprach Harald mit ironischem Unterton. „Wie mir scheint, verdienen Sie ganz ordentlich auf diese Weise. Können Sie mir diese Transaktionen etwas deutlicher darlegen?“
Auch das war noch keine echt bedrohliche Frage. Sie war immerhin harmloser, als die, die den Steuerprüfern und sogar Heikos eigenem Steuerberater einfielen. „Es funktioniert ganz einfach. Am besten erkläre ich es Ihnen anhand von Ersatzteilen. Jedes Fahrzeug hat mit der Zeit seine Verschleißerscheinungen, aber nicht jeder Autobesitzer verfügt über ausreichend Geld, sich neue Ersatzteile zu kaufen. Also sieht er sich nach billigeren Alternativen um. Ich kaufe intakte Ersatzteile auf Anfrage auf und verkaufe sie dann weiter. Manchmal lasse ich Unfallfahrzeuge ausschlachten, um an solche Ersatzteile zu gelangen. Ein Frontalzusammenstoß bedeutet, dass die Motorhaube hinüber ist. Aber den Kofferraumdeckel, den kann man vielleicht immer noch verwerten, nicht wahr?“
„Das schon,“ wandte der Kripomann ein. „Trotzdem sollte man sich als Zwischenhändler davon überzeugen, ob der Kofferraumdeckel nicht auch etwas abbekommen hat. Wie handhaben Sie so etwas denn, wenn Sie von zuhause aus agieren?“
„Nun ja, ich habe da so meine Methoden und Prinzipien. Natürlich kaufe ich keine Unfallfahrzeuge blind von Privatleuten auf. Meine Zulieferer sind schon alle sehr vertrauenswürdige Leute ihres Fachs, die kein Interesse daran haben, mir faule Äpfel zu verkaufen. Schließlich wollen die ja noch mehr Geschäfte mit mir durchziehen.“
Steiner beließ es hierbei. Er wusste, dass es einen schwunghaften Handel im Internet mit Ersatzteilen aller Art gab. Aber die Gewinnmargen bei solchen gebrauchten Gütern waren gering, nahm er an, und zum Beispiel Kofferraumdeckel wurden wohl kaum in Dutzenden geordert. Er vermutete etwas Unkoscheres, wusste aber noch nicht, was es sein sollte. Er bat Ralf Frisch, die Aufnahmen von Angelas Ermordung auf seinen Computer zu übertragen. Während Ralf damit beschäftigt war, fragte er Nille, ob er sich überhaupt im Stande fühle, das Ereignis schadlos ansehen zu können. Nille glaubte, der Sache gewachsen zu sein.
Während Heiko sich die Aufnahmen ansah, studierte Harald seine Gesichtszüge akribisch. Auch wenn Nille keinen Ton von sich gab, schien er sehr betroffen zu sein. Dann die Frage, ob er den Täter vielleicht erkannt habe. Die wurde mit einem klaren Nein beantwortet. Daraufhin erklärte Steiner die Vernehmung für beendet, und Nille verabschiedete sich.
Als dieser gegangen war, sagte Harald mürrisch zu Frisch: „Mit dem Kerl stimmt etwas nicht.“
„Glaubst du, er hat mit dem Mord etwas zu tun?“
„Das nicht unbedingt. Jedenfalls nicht direkt. Dass er nicht der Mörder ist, davon konnten wir uns ja selber überzeugen. Ich glaube auch nicht, dass er dieses Verbrechen in Auftrag gegeben hat. Dafür wirkte er eine Spur zu aufrichtig mitgenommen. Es könnte aber sein, dass jemand die Tat begangen hat, um ihn zu schocken. Sollte das der Fall sein, hat es am ehesten mit seinen Geschäften zu tun. Die müssen wir auf jeden Fall näher unter die Lupe nehmen. Und noch etwas werden wir tun. Wir werden seine Angaben über seinen heutigen Tagesablauf nachvollziehen. Das heißt, wir fordern auch sämtliche Angaben über die mit seinen Telefon- und Internetanschlüssen getätigten Verbindungen von heute und den letzten paar Wochen an. Was Neues von der Spusi, der KTU oder der Gerichtsmedizin?“
„Bedaure, aber so schnell wird’s nicht gehen,“ entgegnete Frisch. „Boomberg wird wohl Recht haben, wenn er meint, keine Spuren des Täters am Opfer finden zu können. Und ’ne Zigarettenkippe wird der Kerl auch nicht kurz vor der Tat weggeworfen haben. Heinz klappert noch die Umgebung des Tatorts nach Augenzeugen und Überwachungsvideos ab. Was wir momentan an Aussagen und Bildmaterial vorliegen haben, ist wenig berauschend.“
2. Heiko Nille im Visier
Erster Donnerstag nach der Ermordung Angela Jahns
Meistens, wenn ein neuer Fall in Angriff genommen werden musste, fand die erste reguläre Arbeitsbesprechung im Büro der Leiterin des Morddezernates, Patricia Unkel, statt. Das war auch an diesem Morgen um halb neun der Fall. Erschienen waren Boomberg, Lambrecht, Steiner, Frisch, Schmidt, Monika Steiner, - Ehefrau und Assistentin Harald Steiners -, der Polizeipsychologe Meyers und natürlich auch die Kriminalrätin, die hier im Prinzip den Vorsitz führte, sich aber in Fällen, die unter Steiners Leitung fielen, lieber kompetenz- und rangmäßig im Hintergrund hielt.
Harald legte zunächst sachlich den Vorgang nach den gesicherten Fakten dar, um dann selber die Fragen aufzuwerfen, die bei solchen Ermittlungen immer am Anfang aller weiteren Erörterungen stehen: „Wer kommt als Täter und wer eventuell als Auftraggeber des Mordes in Frage, und was sollte mit diesem Mord bezweckt werden?“ Typisch dieser Hauptkommissar, ließ er keine Zeit verstreichen, auch selber die Antworten anzubieten. „Der per Video erfasste Mörder scheint keinen direkten Bezug zu seinem Opfer zu haben. Er rempelt Angela Jahn an, beschimpft sie nur ganz kurz, aber heftig, haut ihr mit der flachen Hand ins Gesicht und zieht ohne Vorwarnung seinen Dolch, oder welcher Art die Stichwaffe auch sonst gewesen sein mag. Dann flüchtet er in die Antonsgasse, wo sich seine Spur verliert. Er hat sie nicht beraubt. Nach allem, was wir über solche Tathergänge wissen, könnten wir es schlichtweg mit einem Psychopathen zu tun haben. Wäre ihm nicht die Jahn über den Weg gelaufen, hätte es eine oder einen anderen getroffen. Auffallend ist seine Zielgenauigkeit. Alle drei Einstiche galten der Herzgegend. Das widerlegt zwar nicht die Theorie vom Psychopathen, belegt aber die eindeutige Mordabsicht. Interessant sind Ort und Zeitpunkt des Geschehens. Mitten in der belebten Fußgängerzone zu einer Zeit, zu der sich noch massenhaft Menschen dort aufhielten. Auch das würde zu einem Bekloppten passen. Je mehr Publikum, desto größer der Reiz. Gesellt sich hinzu, dass solche Anomalen