Seit sieben Jahren arbeitete das Institut für Tropenkrankheiten nun schon mit der Universität Medellín zusammen. Die Ergebnisse waren immer aufschlussreich und zufriedenstellend gewesen, denn der Regenwald mit seiner nirgendwo sonst auf der Welt so reichhaltigen Flora und Fauna bot einen idealen Nährboden für alle möglichen Erreger. Das feuchte Klima und die gleichbleibende Umgebung durch die fehlenden jahreszeitlichen Schwankungen hier in Äquatornähe sicherten den Virologen, Bakteriologen und Immunologen im Institut ein nicht enden wollendes Patientengut, obwohl die Umstände, unter denen hier gearbeitet wurde, alles andere als förderlich waren. Hier im Dschungel Kolumbiens, in dem die abgelegenen Dörfer nur durch Trampelpfade zu erreichen waren, breiteten sich Krankheiten rasch und außerhalb der betroffenen Ansiedlungen unbemerkt aus. Hilfe kam meist erst dann, wenn es zu spät war. Ausgedehnte Sumpfgebiete erschwerten die Hilfeleistung, zusätzlich zu den Banden der lokalen Drogenfürsten, denen nicht viel daran gelegen war, Fremde auf ihrem Territorium zu wissen. Und für die paar Kuriere, die ihnen wegstarben, gab es leicht Ersatz. Offiziellen Angaben zufolge kämpften die Behörden des Landes intensiv gegen den Drogenschmuggel, aber es war dann doch erstaunlich, wie wenig sich im Laufe der sieben Jahre geändert hatte. Auch Professor Morales hatte dem Institut versichert, dass die Regierung in dieser Region hart durchgegriffen und große Erfolge erzielt hätte. Aber das ganze Institut wusste, dass der verzweifelte Mann nur versuchen wollte, seine armen Landsleute zu retten in dieser grünen Hölle, die selbst von den Einheimischen „Malverde“ - Unkraut – genannt wurde. Zur Zusammenarbeit zwischen Morales und dem Institut war es nach dem Gastaufenthalt des Kolumbianers in Hamburg gekommen. Jedes Jahr besuchte nun eine Gruppe des Instituts die Universität Medellín und einige Forschungsstationen im Regenwald - alles Trabanten der großen Wissenschaft in einer Welt, die den Deutschen fremd blieb. Sie verbrachten die Tage und Nächte unter sich in der Unwirtlichkeit des Dschungels, ohne jemals mit der Bevölkerung in Kontakt gekommen zu sein. Die Proben wurden von Boten gebracht, die Untersuchungsergebnisse genauso wieder abtransportiert und die Mediziner und Naturwissenschaftler arbeiteten, schliefen und aßen in ihren Stationen. Wenn das Projekt abgeschlossen war, überließen sie den einheimischen Kollegen wieder die Szene. Eine Publikation in einem angesehenen Fachblatt – das war alles. Nicht einmal die Zahl der Todesfälle wurde erwähnt. Aber das neue Medikament ging bald in die klinische Prüfung.
Eines Tages war der Hilferuf von Morales gekommen. In einem Indio-Dorf im Hochland hatten schwere Infektionen zu Todesfällen unter Alten und Kleinkindern geführt. Die Aufzeichnungen dokumentierten das gleiche Krankheitsbild, mit dem sich Piets Arbeitsgruppe beschäftigt hatte, und Lober hatte seinem Mentor versichert, dass die Medikamente vor Ort erfolgreich einsetzbar seien. Doch dieser beharrte auf dem Standpunkt, dass „die da unten das viel besser alleine können.“ Aber Lober hatte nicht locker gelassen. Nach langen Telefonaten mit Morales war schließlich auch der Mentor einverstanden gewesen, freilich nicht ohne Piet vorher die Bestätigung abzuringen, dass er die Reise auf eigene Gefahr unternahm.
Lober ließ die Medikamente verschicken und das Institut erhielt kurz darauf eine Nachricht mit der Bitte um einen weiteren Wirkstoff, der an einem anderen Ort von Nutzen wäre; auch diese Sendung verließ Hamburg.
Aber hatten die Medikamente auch wirklich Medellín verlassen? In einem Kühlfahrzeug, wie von Morales zugesichert? Kollegen, die schon einmal dort gewesen waren, hatten von wahren Horrorszenarien berichtet, die sich beim Transport von Geräten und Medikamenten zugetragen hatten: Fahrzeuge ohne oder mit nur unzureichender Kühlung, Fahrer, die keine Ahnung hatten, wo die Station war, und die nicht einsahen, warum etwas so wichtig sein konnte, dass man von einem ausgedehnten Plausch mit dem Compadre und einigen Runden Kautabak und einem Nickerchen hätte Abstand nehmen sollen!
Warum fragst Du nicht einfach das Großmaul neben dir, überlegte Lober. Aber was würde der schon wissen? Der war doch bestenfalls mal beim Fiebermessen dabei! Wenn schon sein Professor einfach eine zusätzliche Sendung Medikamente bestellt hatte, die vielleicht irgendwo einzusetzen waren!
Piet atmete tief ein. „Wissen Sie, ob die Medikamente da sind?“
„Sie sind da,“ antwortete Acacio, ganz ruhig, ohne Piet anzusehen. „Sie lagern im Rathaus. Das ist der einzige Ort, an dem fast nie der Strom ausfällt.“
„Wie bitte?“
„Mach dir keine Sorgen,“ versicherte Acacio, „alles ist in Ordnung. Beide Sendungen sind da, unversehrt und sachgemäß gelagert. Wir können sofort anfangen.“ Er sah zu Piet rüber und grinste. „Stimmt wirklich, Alemán.“
Lober starrte auf den langen Kühler des Wagens. Warum auf einmal so freundlich, warum nicht wieder eine Szene? Aber er war erleichtert darüber, dass der Kolumbianer nicht wieder die Beherrschung verloren hatte, als hätte er Piets abfällige Gedanken die ganze Zeit über lesen können. Lober legte keinen Wert darauf, hier endgültig aus dem Auto geworfen zu werden. Womöglich waren sie noch meilenweit von der nächsten Siedlung entfernt, und sicher lebten hier ohnehin nur noch Guerilleros, Drogenschmuggler oder Indios, die womöglich nicht einmal Spanisch sprachen. Immerhin schien es in Casillas ein Rathaus zu geben!
Piet lehnte sich zurück. Na, Freundchen, dachte er, dann wollen wir mal sehen, was du unter Unversehrtheit und bester Lagerung verstehst! „Wie lange fahren wir noch?“
„Noch eine halbe Stunde. Du wohnst in dem Hotel direkt bei der Kirche; das hat den Nachteil, dass du die Glocken hörst, aber den Vorteil, dass die Zimmer dort Telefon haben.“
Wie würde wohl Acacio auf seine Arbeit hier reagieren? Glaubte er im Ernst, ihm, Piet, sagen zu müssen, was zu tun sei? Wer hatte den Wirkstoff definiert? Wer hatte denn die Arbeiten im Vorfeld gemacht und erfolgreich publiziert? Piet Lober! Das würde Señor Varela wohl einsehen müssen! Aber was, wenn er wieder einen seiner Wutanfälle bekäme? Nein, das würde er nicht wagen vor seinen Leuten, die nur eins wollten: dass sie und ihre Angehörigen bald wieder gesund waren. Acacio würde ganz schnell merken, dass er wenig ausrichten konnte! Lober spürte Genugtuung aufsteigen. Tut mir ja leid für dich, mein Junge!
Die ersten Häuser der Stadt tauchten hinter der nächsten Kurve auf. Erst verlassene Gebäude ohne Fenster, dafür mit umso mehr Graffiti an den Wänden, Parolen gegen die Regierung und gegen den Bürgerkrieg, das Konterfei von Che Guevara „hasta la victoria siempre“, dann bewohnte Häuser, ein- oder zweistöckig, eng aneinander gebaut, bunt verputzt und mit ebenso bunten Fensterläden und flach abfallenden Dächern. Im Licht der untergehenden Sonne wirkten sie malerisch und fröhlich wie eine überdimensionale Puppenstube. Es duftete nach Abendessen. Die Straßen waren menschenleer, und Piet stellte sich vor, wie sie jetzt in den Häusern alle um einen großen Tisch herum saßen und auf die vollen Schüsseln warteten. Er spürte den Hunger aufsteigen, und zu gerne hätte er Acacio gefragt, was es denn hier normalerweise zu essen gäbe, mal abgesehen von Reis und Bohnen, denn Reis und Bohnen können gar nicht so köstlich duften. Er erinnerte sich an die Fajitas, die sie in New York gegessen hatten, knuspriges, geschnetzeltes