Schließlich fuhr der Wagen vor. Ein Buick Convertible aus den Siebzigern, ein Riesenschlitten, ockergelb, mit breiten blauen und roten Streifen an den Seiten: lackiert in den Landesfarben! Er fuhr sehr langsam, obwohl die Straße frei war, und er sah aus wie ein vergessenes Requisit aus einem Hollywoodfilm. Auch die Taxifahrer machten ihre Bemerkungen zu dem ungewöhnlichen Gefährt, das jetzt in einer der Parkbuchten angehalten hatte. Piet musterte den Wagen mit ungläubigem Interesse, zumal der junge Mann am Steuer auch noch zu ihm herübersah. Dann stieg er aus und schlenderte auf Lober zu, lässig, als wolle er Piet zeigen, dass man sich hier auch beim Abholen wichtiger Persönlichkeiten Zeit nahm. Die langen Haare wehten im Wind, genauso wie sein dünnes Hemd.
Ob er Señor Piet Lober de Hamburgo sei, sprach er Piet an, ohne die Sonnenbrille abzunehmen. Nachdem Lober seine nicht wirklich freudige Überraschung überwunden und die Frage mit einem eher gestammelten „Sí“ beantwortet hatte, sagte der Fahrer des bunten Wagens:
„Ich bin Acacio Varela. Morales hat mich geschickt, um dafür zu sorgen, dass man Ihnen hier nicht den Hintern abschießt, dóctor.“ Dabei grinste er breit und entblößte eine Reihe makelloser Zähne.
Piet starrte ihn an. Nicht genug, dass es ihn schon ärgerte, mit welch seltsamem Vehikel man hier seine wissenschaftlichen Gäste abzuholen pflegte, auch diese Person hier war nicht unbedingt das, was er erwartet hatte! Piet war nie um eine Antwort verlegen gewesen, doch auf diese Begrüßung fiel im nichts ein.
Der junge Kolumbianer nahm die Sonnenbrille ab; Lober blickte in funkelnde, dunkelbraune Augen. Der Junge hielt ihm seine Hand hin und sagte in deutlich gemäßigterem Ton:
„Kleiner Scherz. Willkommen in Kolumbien.“
Lober stotterte ein gracias und ärgerte sich über seinen verlorenen Punkt. Warum war ihm nichts eingefallen? Wie viele dümmliche Kommentare hatte er während seiner Vorträge lässig mit einem Spruch pariert und für entspannte Heiterkeit unter denen gesorgt, die seine Sprache sprachen? Jetzt gerade hatte er sich wie ein Idiot benommen.
Acacio drehte sich um und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, ihm zum Wagen zu folgen. Lober sah nach unten auf seine Taschen. Sie standen am Platz. Er hob den Kopf und sah zu dem Kolumbianer, aber der schlenderte schon wieder Richtung Wagen, wohl in der sicheren Annahme, dass Piet ihm folgen würde. Der Deutsche holte tief Luft, hob sein Gepäck vom Boden und stapfte zu dem Buick.
Die Universität würde ihm einen Fahrer schicken, hatte Professor Morales gesagt. Der würde ihn die ganze Zeit über im Hochland begleiten und ihm helfen. Statt des Fahrers war ein ungezogener Wilder in Schlabberklamotten gekommen, der ihn sein Gepäck schleppen ließ wie ein Rucksacktourist. Wenigstens öffnete er den Kofferraum des alten Cabriolets, ohne freilich auch nur die kleinste Anstalt zu machen, Piet beim Einladen zu helfen. Stattdessen stieg er ein, startete den Motor und vergewisserte sich mit einem schnellen Seitenblick, dass sein Fahrgast neben ihm saß.
Schweigend fuhren sie los. Acacio Varela schien es nicht zu interessieren, ob Lober der Verkehrslärm und die Abgase störten und er vielleicht lieber das Verdeck geschlossen hätte, oder dass sein Fahrgast beunruhigt um sich sah und feststellte, dass es keine Sicherheitsgurte gab. Er drückte aufs Gas, und das alte Vehikel brummte kraftvoll auf. Der Schub drückte Lober in den Sitz, und seine Hand klammerte sich am Türrahmen fest.
Acacio lachte. „Hier musst du so fahren, rubio, sonst nehmen sie dich auseinander. Die Gringos sind die Schlimmsten. Sie mieten sich feine Wagen, und dann fliegen sie in der zweiten Kurve von der Straße. Weil sie nicht wissen, dass wir hier auch beim Autofahren die Stärkeren sind.“
Lober antwortete nicht. Seine Wut wurde immer größer, und am meisten ärgerte er sich über sich selber. Er musterte den Einheimischen neben ihm wie ein widerliches Insekt. Lässig grinsend saß Acacio hinterm Lenkrad, den Arm auf den Rahmen gelegt und wiegte den Kopf im Takt der Musik, als säße er allein im Auto. Er hatte ein feines, fast schon edles Profil, und sein Haar glänzte in der Sonne, pechschwarz. Seine Hände waren schmal, feingliedrig und sauber; Lober kam es vor, als gehörten diese Hände zu einem anderen Menschen als zu diesem ungehobelten Kerl, der wohl auch noch deutlich jünger war als er selbst.
Sie fuhren vom Gelände des Flughafens hinunter auf die Avenida, die aus der Stadt hinaus führte. Es war eine sechsspurige Straße, auf der sich der Verkehr trotzdem gnadenlos staute. Schwere Geländewagen drängten an nebeneinander fahrenden Mopeds vorbei, und im Gewühl bewegten sich Menschen, die ihre Waren den genervten Fahrern zum Kauf anboten: bunte Fähnchen, Knabbergebäck oder Wasserflaschen. Immer wieder passierten sie bunte, offene Busse, in denen Arbeiter in schmutzigen Kleidern und schwatzende Hausfrauen saßen genauso wie Kinder in piekfeinen Schuluniformen. Das Stadtzentrum mit seinen rostfarbenen Hochhäusern passierten sie in kurzer Zeit, und Lober sah ungläubig über den Rand der Karosserie auf kleine Schmiede- oder Schreinerbetriebe, Autowerkstätten, Reinigungen und dann auf eine Menge Blumenläden, die prächtig geflochtene Kränze feilboten. Ein Schild verwies auf das Cementerio Central. Keine breiten Boulevards, wo fein gekleidete Geschäftsleute mit dem Mobiltelefon am Ohr sich den Weg durch den Stau bahnten, keine Arkaden mit Luxusgeschäften, das Stadtzentrum von Bogotá erschien ihm gerade so provinziell wie der Flughafen. Die Häuser am Straßenrand wurden immer kleiner und ärmlicher, je weiter sie sich wieder vom Zentrum entfernten. Zwischen den Häusern waren Wäscheleinen gespannt, und überall standen volle Mülltonnen. Doch es schien niemand zu interessieren, dass sie voll waren: was nicht mehr hinein passte, wurde einfach liegengelassen: Speisereste in Plastiktüten, Kartons, Flaschen, sogar Möbel. Schwärme von Insekten kreisten um die Müllberge, und in der Luft hing der säuerliche Geruch von Fäulnis und Gärung. Hunde liefen herum und schnupperten nach etwas Fressbarem, und ein paar Jungen kickten johlend mit Flaschen gegen eine Hauswand. Männer saßen vor den Häusern, meist eher notdürftig zusammen gezimmerten Hütten, rauchten und sahen in einen Fernseher, der vor dem Haus auf dem Boden stand. Ihre Frauen trugen Kleinkinder ohne Hosen auf dem Arm.
Wahrscheinlich kam sein Mitfahrer ja auch von hier, überlegte Lober, verdiente sich ein paar Pesos, in dem er für Morales Gäste vom Flughafen abholte, wenn der offizielle Fahrer kurzfristig ausgefallen war. Sicher dachte man sich hier: besser ein abgerissener Typ mit einem bunten Amischlitten als gar kein Abholservice. Hier war man wohl nicht so professionell und so organisiert, wie Piet dies in New York oder Bethesda erlebt hatte! Bestimmt war es so. Sie kannten hier eben auch diese Höflichkeit nicht, mit der man Ausländern begegnet, die noch dazu in einer so wichtigen Angelegenheit reisten. Wenigstens schien er den Wagen zu beherrschen, obwohl Piet sich nicht sicher war, ob dies aufgrund eines rechtmäßig erworbenen Führerscheins war.
Was solls, dachte er, ich werde ihm nach der Ankunft ein paar Scheine extra zustecken. Das muss dann aber auch genug sein! Trotz allem gelang es ihm nicht, dieses Gefühl der wütenden Ohnmacht loszuwerden, das die dreiste Begrüßung des Kolumbianers bei ihm ausgelöst hatte.
Der große Wagen brummte vor sich hin, und Piet sog geradezu gierig alle Eindrücke vom Straßenrand in sich auf, nur um endlich diese brennende Wut loszuwerden. Er fürchtete nur noch mehr in die Defensive zu gelangen, und er fühlte sich missachtet, übervorteilt und alleine.
Bald war nur noch die Straße da, ab und zu ein paar vereinzelte Gebäude, und es ging bergauf. Noch waren die Kakteen an den Hängen sichtbar, manche über zwei Meter hoch, mit leuchtend gelben Blüten. Doch das dunkle Grün der Bäume wurde immer dominanter, und langsam schluckte es die gelben Kakteen. Nur wenige Fahrzeuge kamen ihnen entgegen. Meist waren es die bunten Busse, die hier den Fernverkehr