„Sondern?“
„Ich weiß es nicht sicher. Deshalb habe ich mich an Morales gewandt.“
„Morales hat noch einen zweiten Wirkstoff angeordnet,“ bemerkte Piet irritiert.
„So? Hat er das?“
Schweigend gingen sie durchs Dorf mit ihrer wertvollen Fracht, und selbst Acacio wirkte auf einmal angespannt und hochkonzentriert. Er trug den Behälter an sich gepresst, als könne er ihm jeden Moment entrissen werden, und er erwiderte die Grüße der Dorfbewohner mit dünnem Lächeln und beiläufigem Nicken.
Piet fragte sich, was im Kopf des Einheimischen vorging, der anscheinend hier im Dorf ein Ansehen genoss, das weit über das eines gewöhnlichen Sozialarbeiters hinausging. War Acacio nicht vielleicht doch der Sohn des Dorfältesten? Aber trotz des langen, schwarzen Haares und der dunklen Augen hatte Acacio so gar nichts Indianisches in seinem Aussehen.
Die Leute im Dorf begegneten ihm mit sehr viel Herzlichkeit, und sie ließen sich auch nicht durch seinen angestrengten Gesichtsausdruck beirren, als seien sie gewöhnt daran. Auf einmal kamen Kinder gelaufen und riefen ihm zu, wann denn wieder Schule wäre, und für einen Moment wich die Verkrampfung aus Acacios Gesicht. Er blieb stehen, freilich ohne den Medikamentenbehälter loszulassen, nahm die Kinder in den Arm und sagte mit einem Lächeln in der Stimme:
„Bald werde ich wieder mit euch lernen, wenn es den kranken Leuten hier besser geht!“
„Baust du dann auch die Schule weiter?“ Die Kinder scherten sich keinen Deut darum, dass der junge Mann offenbar mit ganz anderen Dingen beschäftigt war und bestürmten ihn geradezu mit ihren Fragen.
„Klar!“ antwortete Acacio, „die Schule wird weitergebaut, und sie ist auch bestimmt fertig, bevor es wieder anfängt zu regnen.“
Ein Mädchen, vielleicht sieben Jahre alt, fragte: „Kann ich mitkommen zu den kranken Leuten? Ich helfe ihnen, so wie Mama das tut. Wenn ich groß bin, will ich im Krankenhaus arbeiten, wie der dóctor, der hier war.“ Acacio strich ihr durchs Haar.
„Da musst du aber wirklich warten, bis du groß bist! Jetzt lauf nach Hause und sage deiner Mutter, dass ich euch nachher besuchen werde, ja?“
Die Kleine strahlte ihn an und winkte, während sie losrannte. Piet sah dem Mädchen nach. „Wer ist sie?“
Acacio war wieder ernst geworden und murmelte kaum hörbar: „Das ist Leonor.“
Sie liefen auf ein Gebäude mit kleinen Fenstern zu, das auf einer aufgeschütteten Anhöhe stand, fast schon erhaben inmitten der einfachen Bauernhütten. Es war ein Lagerhaus für Lebensmittel, solide gebaut, um die Vorräte während der langen Regenperioden trocken und sicher zu halten. Nun hatte man es eingerichtet, um die Kranken an einem Ort versorgen zu können und um außerdem eine weitere Ansteckungsgefahr auszuschließen, obwohl es mittlerweile sicher war, dass die Infektion nicht durch zwischenmenschlichen Kontakt übertragbar war.
Die drei Männer und die Frau waren in einem schlimmen Zustand. Bereits zwei Tage nach Ausbruch der Krankheit waren ihre Gesichter aschfahl, die Augen lagen in tiefen, dunklen Höhlen, und die Infusionsnadeln in den dünnen Armen wirkten eher wie eine Tortur als wie eine Lebensrettung.
Lober erschrak. Die Betten vor der kahlen Wand wirkten wie eine bedrohliche Front des Leids, und die Menschen lagen da, hilflos, ausgeliefert und endgültig. Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu, aber er versuchte zu lächeln, um von seiner Beklommenheit abzulenken und den Eindruck des gelehrten Hoffnungsträgers zu machen. Das war es doch sicher, was diese Menschen von ihm erwarteten! Und das war es auch, was er bislang immer gewesen war - bis er in dieses Dorf gekommen war.
Als sie näher an die Betten herantraten, sah Piet an der Wand die Fotos der Ehepartner und der Kinder, obwohl diese nur einen Steinwurf entfernt wohnten. Auf diese Weise waren die Kranken immer bei denen, die ihnen wichtig waren. Und neben den Betten standen Vasen mit frischen Blumen. Er schluckte; für einen Moment wich ein Teil seines Unbehagens.
Acacio setzte sich ans Bett der schlafenden Frau, strich ihr vorsichtig übers Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie war nicht alt, doch sie glich einer Greisin. Die Krankheit hatte ihr Gesicht einfallen lassen; die Wangenknochen standen hervor, und die Haut spannte sich wächsern darüber. Aber sie atmete gleichmäßig und schlief ruhig. Acacio betrachtete sie und sagte liebevoll: „Du wirst es schaffen, Clara, ganz bestimmt. Jetzt wird alles gut.“
Er ließ seine Hand auf der Stirn der Frau liegen. „Das Fieber ist tatsächlich nicht gestiegen; es ist gut, dass sie schlafen kann. Das entspannt ihren geschundenen Körper und gibt ihr etwas mehr Kraft.“
Piet starrte ihn an und konnte nicht glauben, was er sah und hörte.
Sie legten neue Infusionen an und gaben die erste Dosis des neuen Präparates. Piet arbeitete mit fast schon andächtigem Eifer. Er war noch nie in seinem Leben so nervös gewesen, und er hoffte inständig, dass Acacio nichts davon bemerkte. Obwohl alles im Raum sauber und gepflegt war, spürte er den Geruch von Verfall und Leid, und daran änderten auch die Familienfotos und die Blumen nichts. Grausam brannten sich die ausgemergelten Gesichter in sein Hirn, die im spärlichen Licht des Raumes noch elender wirkten; Gesichter, die ihn ansahen voll Hoffnung, Menschen, die keine Ahnung davon hatten, dass der Mann, den sie als ihren Retter ansahen, noch nie zuvor mit ernsthaft Kranken zu tun gehabt hatte. Zum ersten Mal berührte er den Körper eines richtigen Patienten! Am meisten schockierte ihn, dass von der Lässigkeit, mit der er in seinen Vorträgen von „Patienten“ und „Patientengut“ gesprochen hatte, nichts mehr übrig war. Hier lagen keine isolierten, synthetischen Studienobjekte vor ihm, sondern tatsächlich leidende Menschen! Wie sehr wünschte sich Piet, dass die kranken Dorfbewohner eher auf Heilung durch Acacio oder durch was auch immer hofften!
Acacio blieb an jedem Bett sitzen und sah die Leute einfach nur an. Sie waren zu schwach, um zu sprechen, aber sie zeigten durch ihr dünnes Lächeln, dass sie spürten, dass ihnen geholfen wurde. Piet stand daneben und wickelte den Plastikschlauch einer abgelegten Infusion um sein Handgelenk. Er konnte den Blick nicht abwenden und trat kleinmütig von einem Bein aufs andere. Die tiefe Verbundenheit zwischen Acacio und den Kranken quälte ihn, dieses stille, aber selbstverständliche Bekenntnis! Wären dies Szenen aus einer medizinischen Dokumentation gewesen, hätte er sie sofort als sentimentalen Kitsch und als unwissenschaftlich abgelehnt. Doch nun bescherte es ihm einen heftigen Druck in der Brust. Was passierte hier?
Er atmete tief durch und beschwor sich, nicht die Beherrschung zu verlieren! Bloß nicht kapitulieren vor dieser neuen Herausforderung, die noch nicht einmal richtig begonnen hatte! Schließlich gehörte das, was er hier tat, zum Alltag eines jeden Dorfarztes, und wenn er ein Dorfarzt hätte werden wollen, hätte er sich eine Menge Zeit und Lernerei sparen können! Nein, er war Epidemiologe, und die Medikamente, die hier eingesetzt wurden, waren aufgrund der Arbeiten seiner Gruppe spezifiziert worden. Nun konnte es einfach nicht angehen, dass es ihn aus der Bahn warf, dass ein paar Bauern schlecht aussahen!
Trotzdem sah er immer wieder zu Acacio hinüber, der mit einem der Männer sprach, leise und sanft, voll Anteilnahme und Ernsthaftigkeit. In seiner Stimme lag eine Sicherheit, die den kranken Mann sicher nicht länger zweifeln ließ, dass sein Leiden bald zu Ende sein würde.
Es war gerade 24 Stunden her, da hatte derselbe Acacio Piet mit geballter Faust und blitzenden Augen gedroht, ihn in der Wildnis aus dem Auto zu werfen. Piet war sofort überzeugt gewesen davon, dass dieser Junge frei war von jeglichem Einfühlungsvermögen und jeglicher Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber allem außerhalb seiner eigenen Person. Zu gerne hätte er ihn jetzt als Freizeit-Samariter abgestempelt oder als wichtigtuerischen Möchtegern-Lebensretter! Doch so sehr