Brigitte Brandl
Malverde
Das Unkraut namens Lüge gedeiht überall
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Inhaltsverzeichnis
MALVERDE
1
Die Limousinen fuhren durchs Tor, die Einfahrt hoch bis zum Vorplatz, gewichtig, stattlich, bedeutsam. Sie reihten sich auf vor der Blumenrabatte mit den lila Orchideen, die die Jubilarin sich zum Fünfzigsten gewünscht hatte.
Piet stand auf dem Balkon und zählte die Wagen, als könne er die Minuten zählen, die ihm noch blieben, bis er runter musste in die Halle, wo die Eltern die Gäste begrüßten.
Dann kam der Anruf. Niemand sonst hätte um diese Zeit anrufen können! Silvia und Henning waren unten in der Halle, alle anderen auch. Als er die kolumbianische Länderkennung auf dem Display sah, fing er an zu zittern. Wie hatte er darauf gewartet, die ganzen verdammten Wochen lang!
Zuerst hörte er nur ein Rauschen, dann eine Stimme. Er kannte die Stimme, aber es war nicht die, die er hören wollte. Es war die Stimme von Hugo, dem Bürgermeister. Er atmete in den Hörer, als trüge er eine große Last.
„Hugo! Was ist denn passiert, um Himmels Willen?“ drängte Piet, und der Bürgermeister begann zu schluchzen.
„Es war ein Unfall! Du weißt doch, Pedro, dass Acacio immer gefahren ist como un loco. Die Straßen sind schlecht und der Wagen ist alt, aber das hat er doch nie hören wollen! Zweimal hat sich der Wagen überschlagen! Als man ihn gefunden hat, lag er in dem Metallgestell als ob er schliefe, ganz ruhig.“ Hugo seufzte laut. „Er hat nicht gelitten,“ stammelte er, „Pedro, er hat wenigstens nicht gelitten! Er hat sich das Genick gebrochen. Acacio ist tot.“
Piet wollte antworten, aber in seinem Kopf war nichts mehr, was er hätte sagen können. Der Schock schnürte ihm die Kehle zu, und das Zimmer verschwamm zu einem wabernden Brei aus Farben.
Er ließ das Telefon fallen und drückte seine Hand vor den Mund. Die Säure, die aus seinem Magen aufstieg, trieb ihm die Tränen in die Augen. Es gelang ihm gerade noch, das Badezimmer zu erreichen, bevor er sich übergab. Der beißende Geruch nahm ihm die Luft, und die Stimmen aus der Halle mischten sich mit Hugos Schluchzen. Alles ergoss sich wie ein Schwall über ihn, und selbst den Schmerz, als er mit dem Kopf auf den Badezimmerboden aufschlug, spürte er nicht. Hugos Geisterstimme wiederholte immer wieder: „Acacio ist tot.“
Als er wieder zu sich kam, sah er seinen Vater, der ihn entsetzt anstarrte. Er sei doch wohl nicht jetzt schon betrunken? Am Geburtstagsfest seiner Mutter?
Piet kniff die Augen zusammen. Schlag ihn ins Gesicht, schlag ihn doch einfach ins Gesicht! war sein einziger Gedanke. Doch er war nicht einmal in der Lage, seine Hand zu heben. Er drehte seinen Kopf weg, aber er konnte auch nicht heulen.
„Piet, was ist mir dir?“ hörte er seine Mutter fragen und die grimmige Antwort seines Vaters: „Unser Sohn ist betrunken! Sieh zu, dass die Gäste nichts merken.“
Piet schloss die Augen wieder, und der Abscheu drehte ihm fast noch einmal den Magen um. Er wollte schreien, so lange bis er aufwachte aus diesem Alptraum und tatsächlich besoffen irgendwo in seinem Zimmer lag. Mach, dass das nicht wahr ist, Herrgott, mach, dass ich spinne, aber lass das hier nicht wirklich sein! Würg doch nochmal, Piet Lober, spuck es doch raus, dann ist es vorbei, und alles ist wie bisher. Nichts ist passiert!
Doch es war passiert. Und er wusste es. Er lag auf dem Badezimmerboden, und wenn er die Augen öffnete, würde er wieder das Gesicht seines Vaters sehen. Statt Sorge oder wenigstens Ratlosigkeit wäre nur Verachtung darin. „Wir haben Gäste!“
Piet spürte keine Trauer mehr, nur Abscheu. Kalten, giftigen Abscheu. Er griff seinen Vater am Arm. „Ich bin nicht betrunken, Vater. Acacio ist tot. Autounfall. Hugo hat gerade angerufen.“
Er sah zu seiner Mutter. „Sag Deinen Gästen, ich bin krank.“
Dann stand er auf und ging in sein Zimmer.
Den Flug nach Kolumbien buchte er tags darauf.
2
Was für ein Blick! Der Landeanflug auf den internationalen Flughafen El Dorado ist stets spektakulär. Die Maschine durchkreuzt enorme Wolkentürme, dann wieder reißt die Wolkenwand auf, und das Panorama ist faszinierend: die Bergketten halten die die weite Hochebene wie in einer Umarmung,