Vielleicht sehe ich nicht auf den ersten Blick wie ein Russe aus; sicherlich gelte ich aber als großer Mann mit hellem Haar, der auch als Deutscher, Norweger, Engländer oder Pole durchgehen könnte. Auf jeden Fall ähnelt mein Äußeres keinesfalls dem Äußeren eines kleinen, dunkelhaarigen Argentiniers. Eine Gelegenheit zum Tanzen bekam ich weder auf dem ersten, noch auf dem zweiten, nicht einmal auf dem dritten Besuch. Enttäuscht war ich schon. Ich hatte doch bereits 3 Jahre Tango gelernt. Aber keine der Einheimischen wollte mit mir, einem Touristen tanzen, denn eine argentinische Tanguera ist in größtem Maße davon überzeugt, dass Touristen nicht tanzen können. Dass sie den Tango nicht verstehen, denn für sie gibt es keinen Tango außerhalb Argentiniens. Es stimmt, dass die Einheimischen eine sprichwörtliche Verachtung gegenüber allen hegen, die sich in den Tango verliebten, ohne ihn – deren Überzeugung nach – leben zu können, denn uns Europäern sei der Tango nicht in die Wiege gelegt worden. Irgendwie spürte ich diesen stillen Widerstand und respektierte ihn. Es blieb mir ja nichts anderes übrig. Ich musste ihn respektieren. Ich verstand, dass die Argentinier ihre Überlieferung in einer verborgenen Schublade in deren Urform bewahren möchten. Wie eine Großmutter, die den versteckten die Erinnerung an ihre große Liebe wachrüttelnden, schon etwas vergilbten Brief eines Liebhabers aus jungen Jahren gefühlvoll zweimal jährlich in ihre zarten Hände nimmt und darüber streichelt, den Brief eines Jünglings, der bereits seit langem am anderen Ende der Welt selbst von Enkelkindern umgeben ist; diesen Liebesbrief, der noch immer das Herz erwärmt, und das Auge belebt, manchmal mit einer Träne, ein anderes Mal mit einem Funken wie damals, als die Schmetterlinge im Bauch noch frisch und munter waren.
Tief in meinem Innern bin ich überzeugt davon, dass der Tango mit all seiner Tiefe auch von einem Deutschen, Österreicher, Schweizer, Briten oder Russen gefühlt werden kann. Und auch von einem Maori, Lappen, Papua. Ich bin überzeugt davon, dass sogar ein Spartaner den Tango fühlen würde, und auch Tutanchamun Tango hätte tanzen können, wenn er einen guten Tangolehrer engagiert hätte, mit dem der Pharao vor dem frühen Ableben schnell hätte lernen können.
Ich denke, jeder Mensch kann sich im Tango niederlassen, überall und jederzeit, denn jeder sucht im Tango seinen Sinn, seine Poesie, seine Herausforderung. Letztendlich entstand er unter Menschen aus aller Welt, unter den Zuwanderern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in den tristen Nächten ihres einstigen Traumlandes eine Erlösung von den schweren Tagen in Argentinien suchten.
Den Tango betritt man wie eine Schachpartie. Man betritt eine parallele Welt, die sich in derselben Zeit und in demselben Raum des Alltags abspielt. Innerhalb dieser Realität bleibt die Welt draußen unverändert und wartet auf dich, bis du in diese zurückkehrst. In der Zwischenzeit wirst du innerhalb des Tangos von Energiewirbeln getragen, einige Augenblicke lang wirst du zu ein und demselben pochenden Herz mit allem, was ist, was war und was sein wird. Ein zeitloser Augenblick. Ich würde mir eine Knochenarbeit auferlegen, wenn ich der Zeitlosigkeit eine Ursprungsbezeichnung aufsetzen wollte.
Ich würde nicht sagen, Tango gehört Argentinien. Für mich gilt eher, Tango ist ein Geschenk Argentiniens an die Welt.
Trotz der anfänglichen ablehnenden Haltung der argentinischen Tangueras gelang es mir, mein Herz offen und willig zu bewahren und darauf zu hoffen, dass es sich eine dieser begehrten Ladies anders überlegen und mein Cabeceo annehmen würde. Ich besuchte einige Abende die Ocho Prácticas, die eigentlich Milongas waren. Kleine Milongas, wohin sich Touristen nicht verirrten. Ich beobachtete die Einheimischen beim Tanzen und versuchte, den Wiedererkennungswert meines Gesichts unter ihnen zu festigen. Etwas Strategie war dazu natürlich erforderlich; also nahm ich eine Freundin zu dieser einheimischen Milonga mit, um mit ihr tanzen zu können und sich den kritischen Blicken der argentinischen Tangueras zu stellen. Danach begann ich serienmäßig auf der Milonga La Glorieta De Belgrano zu erscheinen. Diese am Stadtrand von Buenos Aires wird hauptsächlich von jungen Tangueras und Tangueros besucht, mitten im Park unter einem altertümlichen Sommerpavillon mit einer kunstvoll gestalteten Eisenkonstruktion. Auf einer zwischen Wohnblocks und verkehrsreichen Straßen eingepressten Grünfläche liegt ein Stück Erde unter dem Dach, überdeckt mit glattem Marmorstein. Und dort versammeln sich Tangobegeisterte und tanzen Tango.
Die Atmosphäre war entspannt. Freude lag in der Luft. Eine Stunde stand ich bestimmt da, bevor eines der argentinischen Mädchen in meine Richtung nickte. Ich ging los wie ein Startschuss, als ob ich voller Stolz das olympische Feuer auf dessen letzten Etappe tragen würde – und wir tanzten. Wir tanzten gut. Ich wusste es, dass es so sein würde, ich hoffte, dass es so sein würde, denn ich hatte sie bereits mehrere Abende hintereinander vom Rande der Tanzfläche beobachtet. Es war eine jener jüngeren Einheimischen, die gewillt sind, den Tango bei Lehrern zu lernen. Die älteren Einheimischen halten nämlich an der alten Überzeugung fest, dass man den Tango auf Milongas lernt. Für meinen Geschmack tanzen sie hauptsächlich nicht schön, zumindest nach außen hin sieht es nicht schön aus. Sich diesen Einheimischen zu nähern, ist quasi eine Mission Impossible, denn sie kommen in der Gesellschaft von Freunden, Ehepartnern, Familien – und tanzen fast ausschließlich untereinander. Milonga ist für sie eine Zeit des Beisammenseins, der Unterhaltung, des Abendessens und eines guten Getränks. Hand aufs Herz, ich hätte mich ziemlich seltsam gefühlt, wenn ich versucht hätte, in deren Welt einzudringen und mein Cabeceo an eine ältere Dame um die 70 gerichtet hätte, die mit ihrem Ehegatten beim Abendessen gewesen wäre. Dabei geht es gar nicht darum, dass ich nie mit einer 70-jährigen Dame getanzt hätte; dies ist in Europa vollkommen üblich. Aber in Buenos Aires sind diese Gesellschaften doch etwas verschlossener.
Die junge Argentinierin, mit der ich an jenem Abend tanzte, war eine der besten in ihrer Mädchenclique. Ich hatte das Gefühl, als ob unter den anwesenden Mädchen eine Art Stammeshierarchie herrschte; denn sobald wir unsere Tanda zu Ende getanzt hatten und ich sie zurück an ihren Platz begleitet hatte, steckten sie wie Sportteams vor einem bedeutenden Wettkampf beinahe ritualsmäßig ihre mit eleganten Tangofrisuren verzierten Köpfe zusammen und blickten zielstrebig und selbstbewusst in meine Richtung. Nach dieser offensichtlich für mich positiv ausgehenden Beratung wollten alle mit mir tanzen. Ach, das Leben ist so schön!
Mit großer Freude und einem siegreichen Lächeln im Gesicht kehrte ich nach dieser erstmals für mich wirklich erfolgreich verlaufenden Milonga in der mit morgendlichen Dämmerung gefärbten Stadt über alte Asphaltbürgersteige glücklich und motivierter als je zuvor in meine bescheidene Kammer zurück.
Wie ich bereits erwähnte, war mein erster Aktivurlaub in Argentinien – und eigentlich auch alle darauffolgenden – als harte Schufterei ausgelegt, mit dem Ziel, alles zu entdecken, was es im Tango zu entdecken gibt. Das gesamte Projekt war also gründlich und sehr straff konzipiert. Ich hatte 30 Tage zur Verfügung und meine Kalkulation der Aktivitäten war bis zum obersten Rand vollgefüllt. Vielleicht lief das geplante Programm schon fast etwas über. Ich stand um ein Uhr am Nachmittag auf, aß, duschte, zog mich an und begab mich zu den Unterrichtsstunden bei verschiedenen Maestros der Stadt. Ich nahm täglich 4 Einzelstunden, die bis gegen 9 Uhr am Abend dauerten, erholte mich kurz, und stand um halb zehn bereits vor der Tür zur Práctica. Nach der Práctica eilte ich zu meinem Zimmer zurück, aß eine Kleinigkeit, duschte, zog mich um, um gegen Halbmitternacht auf der Milonga zu sein, und bis zum Morgengrauen zu tanzen. So verlief mein Tagesablauf an fast allen 30 Tagen, außer an zweien, an denen ich so erschöpft war, dass ich mich vor der Milonga um Mitternacht zwar nur kurz etwas hinlegen wollte, dann aber bis 4 Uhr am Morgen so fest schlief, dass mich nicht einmal die beste aller argentinischen Tangueras hätte wachküssen können. Ich wusste, dass es nun keinen Sinn mehr hatte, sich auf den Weg zu machen. Ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich diese so wertvolle Zeit mit Schlafen vergeudet hatte.
Mit diesem Tempo verschlang ich die Kenntnisse, die mir von den besten Maestros der Stadt im Einzelunterricht übermittelt wurden, und die ich mit den Tangueras und Tangueros aller Art auf den Prácticas und den Milongas wiederholen und erforschen konnte. Ich lernte, tanzte, lernte, tanzte – wie auf einem Karussell, Tag für