Relativ schnell bemerkte ich auf der gegenüberliegenden Seite des Tanzsaals eine Bar. „Ach, das trifft sich ja gut“, dachte ich mir – wie ein Balsam für meinen von den Anstrengungen und dem Stress geschlagenen sowie im Adrenalin marinierten Körper. Also stand ich kurzentschlossen auf und überquerte zielgestrebt, möglichst elegant die Tanzfläche. Langsam, in einer schönen, akkuraten Geraden über die Mitte der Tanzfläche… mit meinem Ziel – die Bar – im Auge, aber doch auch auf die entgegenkommenden TänzerInnen achtend. Ich war richtig gut. Rempelte weder einen Tanguero noch eine Tanguera an. Erst später lernte ich aus der Tango-Etikette, den sog. Códigos, dass ich mich gerade mit dieser Handlung verraten – wie eine Stripteasetänzerin total entblößt – hatte.
Vielleicht standen in den Moskauer Schulen zu Beginn die Códigos – eine wesentliche, prinzipiell unausgesprochene Sammlung von Tangoregeln und -ritualen – nicht auf dem Programm. Vielleicht aber hatte ich einfach nur alles überhört. Bis zu diesem Augenblick hatte ich allerdings nicht den leisesten Schimmer von einer Tango-Etikette, wo wirklich klipp und klar steht: „Überquere nie, wirklich nie die Tanzfläche! Gehe immer den Tanzflächenrand entlang, wenn du nicht tanzt! Überquere nie die Tanzfläche! Tango ist etwas Heiliges. Tango darf nicht gestört werden!“ Jeder orthodoxe Tanguero hat diese Regel tief in seinem Unterbewusstsein verankert. So tief, dass er sogar im Falle eines Brandes, Erdbebens oder jeglicher sonstigen Naturkatastrophe, einschließlich eines Atomangriffs, den Raum immer den Tanzflächenrand entlang verlässt. Denn, vielleicht wirst auch du einmal verstehen, wahre Tangueras und Tangueros würden sogar unter solchen Randbedingungen unglücklicher Umstände ihre Tanda ungestört bis zum Ende tanzen. Davon bin ich heute überzeugt. Aber später ist man ja immer klüger.
Wie gesagt, ich war richtig stolz auf mich, wie geschickt es mir doch gelungen war, das besagte heilige mit glattem Parkettboden verlegte Gebiet bis zur Bar – quer durch die Mitte, den kürzest möglichen Weg nehmend – zu überqueren. Ich stieß mit niemandem zusammen, ich berührte niemanden. Zwischen den Tanzenden glitt ich mit der Leichtigkeit eines Samurais, was von mir das Rekrutieren aller Fertigkeiten abverlangte, die ich in meiner Karategeschichte erlernt hatte. Ich blockierte wirklich niemanden; aber in jenen endlos dauernden Sekunden konnte ich das stechende Gefühl nicht loswerden, dass mich alle bemerkt hatten. Vorwurfsvolle Blicke bohrten sich in meinen Rücken, als ich vor die Theke der Bar trat.
Meine Premiere auf der Tangoszene mit dem Überqueren der Tanzfläche wiederholte ich an diesem Abend noch einige Mal, als ich von einem Bekannten zum anderen ging und lässig plauderte. An diesem Abend tanzte ich nicht. Kein einziges Mal. Zwar versuchte ich, Ruhe zu bewahren, vorzugeben, es sei meine Entscheidung gewesen, an diesem Abend nicht zu tanzen. Allerdings stellte ich mich mit meinen bis dahin nicht existierenden Kenntnissen der Códigos in der ersten Minute meiner jungfräulichen Anwesenheit auf der Milonga bloß. Quasi jedem im Raum war sonnenklar, dass ich ein totaler Anfänger war; oder zumindest nur ein Gast, der nicht tanzen konnte, ein Eindringling auf der Bildfläche. Und das obwohl ich doch wirklich den ganzen Abend alle bis dahin ungeahnten Bemühungen einsetzte, um aus meinem Körper die letzten einfallsreichen Fertigkeiten herauszupressen, um entspannt, etwas unzugänglich auszusehen, wie ein erfahrener Tanguero, der an diesem Abend nur etwas desinteressiert am Tanzen war, nur der Musik lauschen wollte.
So kam es also, dass ich die Códigos mehr oder weniger in der Praxis lernte. Auf die nächste Gelegenheit, meine Tanzkünste zum Ausdruck zu bringen, wollte ich dann aber doch lieber etwas warten. Nach meiner ersten Milonga war mir die Lust am Neue-Erfahrungen-Sammeln etwas vergangen. Ich hielt an unseren Kursen und Prácticas fest. Ab und zu gestaltete unser Lehrer die Prácticas zu Milongas um und lud die Moskauer Tangueras und Tangueros in unsere Tangoschule ein. Für uns Tangoküken war das wesentlich einfacher, denn wir beendeten den Kurs und konnten dann vor Ort, auf der Milonga, unseren Flaum trocknen lassen. Wohl oder übel befanden wir uns mitten auf der Tanzfläche, als die restlichen Tangueras und Tangueros eintrafen.
So kam eines Abends auch eine hinreißende Dame, die ich bereits zuvor beim Tanzen bewundert hatte. Für unsere Clique war sie damals ein unerreichbarer Juwel, eine Ehrfurcht auslösende Tango-Diva, für die wir uns wohl noch lange durch den Tangolern-Dschungel würden kämpfen müssen. Ich lehnte sicher am Rand der Tanzfläche, als ich ihren Blick einfing. Mein ganzes Innere zuckte. Mein Blick glitt ruhig, mit der Beharrlichkeit eines Seemanns, der das Meer vor dem Gewitter beobachtete, weiter über den Raum. Dass es eine Mirada und ein Cabeceo gab, die spielerische Einladung zum Tanz, ohne das Gesicht zu verlieren, das wusste ich damals noch nicht. Unsere Blicke trafen sich noch einige Male. Und jedes Mal nickte sie mit dem Kopf. „Was in aller Welt…?“, dachte ich bei mir. Ich hielt nach einem Bekannten Ausschau, wem auch immer, um mich in den sicheren Hafen eines Gesprächs zu verstecken, als ich direkt mit ihr – aus dem Nichts erscheinend und vor mir stehend – zusammenstieß. Sie lächelte mich mit ihrem süßen Lächeln an, wir stellten uns vor, wechselten einige höfliche Worte… und ich wollte gerade zum Small-talk-Thema Nr. 1 übergehen, die ins Land ziehende Wetterfront und den unglaublich kühlen hinter uns liegenden Sommer erörtern, als sie mich fragte: „Möchtest du mit mir tanzen?“
Ich hatte nicht wirklich Lust, meine mangelhafte Tanzvergangenheit und die ungemütliche Wahrheit über meine Jungfräulichkeit offenzulegen, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie zuvor auf einer Milonga getanzt. Noch weniger war ich gewillt, sie – diese umwerfend aussehende Tanguera – mit einem Korb zu versetzen. In letzter Minute durchströmte mich ein Gedankenblitz, dass es im Tango keine Fehler gebe, und führte dieses Juwel – angespornt durch den unerwartet zusammengenommenen Mut – auf die Tanzfläche.
Ich war beunruhigt. Ich würde mit einer richtigen Tanguera tanzen. Wow! Und zugleich neugierig darüber, was der wahre Tango sei. Heute würde ich es endlich entdecken.
Wir standen da, die Musik erklang; ich hatte das Gefühl, es werde gehen. Wir umarmten uns… und ich wollte gerade zum ersten Schritt ausholen, als sie sich mit ihrem ganzen Körper an mich lehnte. Das war keine leichte Neigung in der Umarmung, das war nicht nur ein kleiner Teil ihres Körpers, der an meinem Körper lehnte. Nein, das war die Übertragung ihrer gesamten Masse in einen nahezu horizontalen Vektor auf meine Wirbelsäule.
Wir begannen zu tanzen bzw. ich gab mein Bestes, sie – so gut es ging – rund herum durch den Tanzsaal in der Ronda zu schieben, überrascht wegen des unerwarteten Erlebnisses, mit unzähligen stechenden Fragezeichen in den Augen: Ist dieses Leiden und Unbehagen etwa dieser in Mythen und Legenden umhüllte Tanz voller Leidenschaft und das Verschmelzen zweier Herzen in eines? Dieser bulldozerartige Tanz, ich als Bulldozer,… das Marschieren von tausenden von Pferdestärken? Vielleicht ist das eine noch schwierigere Sportdisziplin als jene, der ich gerade mit aller Freude Lebewohl gesagt hatte, als ich meinen schwarzen Gürtel in eine Schublade ablegte und mit einer Leichtigkeit und Freude das Anziehen von Tanzschuhen in Angriff nahm?
Schweißgebadet war ich nach dem letzten Takt Musik gerade dabei, meine Freude darüber zum Ausdruck zu bringen, dass wir uns kennen gelernt hatten, und begann mich zu verabschieden, als sie mir mit ihrem Zeigefinger winkte: „Nein, nein, nein! Man tanzt bis zur Ende der Tanda.“
„Bis zum Ende von was?“ fragte ich völlig außer Atem.
„Bis zum Ende der Tanda. Einer Reihenfolge von vier Liedern. Insgesamt vier. Also noch drei.“
Das war eine schlechte Erfahrung. Und das war absolut nicht meine Schuld. Allerdings war ich mir dessen dann doch auch nicht mehr so sicher. Und nahm die Schuld für den erfolglosen Versuch nach tiefgründigem Überlegen auf meine Schulter. Dieser etwas unschöne Startversuch meiner Tanzkarriere störte mich dann aber doch so sehr, dass ich der Sache auf den Grund gehen wollte. Noch mehr. Ich wusste aus Erfahrungen, die ich in meinem Leben bis zu jenem Zeitpunkt gesammelt hatte, dass ich ausharren und alle Hindernisse, die mit unzureichenden Kenntnissen gleichzusetzen waren, überwinden musste. Das ist nichts anderes als ein Minenfeld, das nur jenem Zweck dient, dass man lernt, einer voreiligen Begeisterung oder Enttäuschung auszuweichen. Und ans Glück zu glauben.