Meine Anfänge… na ja, ich muss zugeben, meine ersten Schritte auf dem Tanzparkett waren nicht wirklich die Schritte eines Einhorns. Nein, sie waren etwas niederschmetternder. Da brauche ich nicht um den heißen Brei herumzureden. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich zwar noch nicht, dass man alles hinter sich lassen muss und dass man nichts Anderes mehr machen kann, als nur zu tanzen, zu tanzen und nochmals zu tanzen. Ob man an sein Unterfangen glaubt oder nicht, ob das gesamte Universum an dein Handeln glaubt oder nicht. Tanzen. So landete ich im Anfängerkurs 1. Und lernte den Lernstoff bzw. versuchte ihn zu lernen. Immer wieder von neuem. Lernte und lernte. Ich gab wirklich mein Bestes, unermüdlich wiederholte ich jede Stunde mit meiner Tanzpartnerin die Schritte: Linkes Bein nach vorne, rechtes Bein anschließen, Gewicht verlagern, …. linken Arm hochhalten, nicht zu weit nach hinten, nicht zu weit nach vorne, linke Hand in Augenhöhe der Partnerin, nicht zu fest drücken, rechte Hand auf ihrem Rücken, nicht zu sehr an dich drücken, …. die Anspannung, Verspannung, Verzweiflung waren regelrecht in der Luft zu verspüren. Wir wiederholten und wiederholten.
Aber es war unvermeidbar. Bis zum nächsten Mal hatte ich bereits alles wieder vergessen. „Das Gedächtnis verloren“, würde mein Schwiegervater sagen… Ich erinnere mich immer wieder an ihn, wenn es meinem Gehirn erfolgreich gelingt, das so hart Erlernte nachhaltig zu löschen. Die Geschichte ist nicht wirklich komisch, eher eine Science-Fiction aus meiner Jugend, die – wenn man den Worten meines Schwiegervaters glauben will – absolut auf wahrhaften Ereignissen beruht und mich noch heute zum Schmunzeln bringt. Mein Schwiegervater ging 54 Jahre lang zur Arbeit. In ein und dieselbe Fabrik: Jeden Tag die ein und dieselbe Tätigkeit. Generell nichts Verblüffendes. Aber eines Abends kam er erst um 22:00 Uhr nach Hause.
Damals arbeitete er in einer Gießerei. Und es trug sich nun mal eben zu, dass er sich nach Feierabend nach der anstrengenden Arbeit auf dem Nachhauseweg „aus Versehen“ in eine Kneipe verirrte. Es gelang ihm zwar – mehr oder weniger – diesen Irrtum gut unter Kontrolle zu halten, wenn hier die Rede von der Pünktlichkeit der Ankunft zuhause ist; allerdings lief ihm die Zeit einmal aus dem Ruder. Damals lebten meine Frau und ich – wir waren noch sehr jung – bei meinen Schwiegereltern. Und die Nachmittage, an denen wir auf ihn warteten, vergingen mehr oder weniger routiniert, vorhersehbar und ruhig. Falls er nicht mit dem Omnibus um drei nach Hause kam, kam er eben mit dem Nächsten. Mit Ausnahme an jenen Tagen, an denen er weder um fünf noch um sechs zu Hause erschien. Dann begann sich meine Schwiegermutter, Sorgen zu machen. Sie sagte zwar, sie sei nur deshalb besorgt, weil ihr Mann Herzbeschwerden habe. Ich verstand sie. Sie war nervös, ihre Beklommenheit nach außen hin äußerte sich mit einem stetig steigenden Nörgeln – bis zu jenem Moment, an dem es im Türschloss knarrte. Wenn es also nicht spätestens bis sieben am Abend im Schloss knarrte, zog sie sich um und machte sich auf den Weg – in entgegengesetzte Richtung des Nachhausewegs meines Schwiegervaters. Oft brauchte sie gar nicht so weit zu gehen. Sie fand ihn bereits im zweiten oder dritten Stockwerk unseres Wohnblocks. Ruhend auf dem Treppenpodest. Mit leerem Blick auf die grauen Wände. Manchmal war er im Treppenhaus eingeschlafen. Er hatte es also fast bis nach Hause geschafft. Wir lebten damals im sechsten Stockwerk und der Weg von der Gießerei bis zu uns nach Hause war ziemlich lang. Mit dem Omnibus eine halbe Stunde. An jenem Abend aber, als sich mein Schwiegervater so fühlte wie ich in meinen ersten Tangostunden, war er – wie ich bereits erwähnte – bis zehn Uhr am Abend nicht nach Hause gekommen. Auch auf dem Podest lag er nicht, als meine Schwiegermutter mehrmals das Treppenhaus unter uns überprüfte. Wir waren bereits sehr besorgt und diskutierten gerade darüber, ob wir ihn nun in der Stadt suchen sollten, als er durch die Tür in den Gang trat. Es reichte ein Blick. Es war uns klar, dass der Wodka sein schwaches Herz schwer getroffen hatte. Er blickte uns an und ich konnte sehen, wie er einige Augenblicke lang versuchte, irgendwie auf vernünftige Weise sein Gesicht zu wahren. Er war offensichtlich verwirrt, überrascht, als ob er sich selbst fragen würde, wo er eigentlich gelandet war. Meine Schwiegermutter war ziemlich verärgert, begab sich in seine Richtung, äußerte mit strengem Blick Worte zu den Themen Verantwortung, Gesundheit, Herz und eigenem Schmerz, als ihr Mann bestürzt aushauchte – mit Müh und Not aus sich heraus tuschelte –, er hätte hier nicht die Finger im Spiel, absolut nicht. Er sei im Omnibus gesessen, in Richtung Zuhause, Altuf'yevskoye Shosse, als er – zusammen mit dem gesamten Omnibus – von Außerirdischen gekidnappt worden sei. Ehrenwort! Man habe die gesamte Gesellschaft entführt, alle seine Freunde. Und das gesamte Gedächtnis gelöscht. Alles! Ja, wir sollen doch bitte Jurij, Sergej und Boris fragen; alle würden die gleiche Geschichte erzählen.
In meinen ersten Tangostunden hätte ich mir öfters ein festes Alibi gewünscht, so wie sich mein Schwiegervater und seine Trinkbruderschaft dieses zusammengereimt hatten. Immer wenn wir die Inhalte der vorigen Kursstunde wiederholten, war es für mich Neuland. Völliges Neuland. Ich erkannte nichts wieder. Wusste nicht, wohin mit dem linken Bein, wohin mit dem rechten. Nichts. Nada. Nada de nada. Meine Kollegen aus dem Anfängerkurs 1 besuchten mittlerweile bereits den Anfängerkurs 2; zu mir in den Anfängerkurs 1 gesellten sich neue Tangobegeisterte. Alle verließen mich nach und nach, wurden quasi versetzt in die nächste Stufe, während ich irgendwie einen Stammplatz im Anfängerkurs 1 zu haben schien. Meine Beine wie festbetoniert. Ich versuchte noch immer, das Geheimnis hinter dem Cross zu lüften. Wie ich meine Tanzpartnerin ohne mündliche Vorankündigung dahin bekommen sollte, war für mich ein großes Rätsel. Ich fühlte mich nicht gut in meiner Haut. Ich fühlte mich wie in der Folterkammer, mitten im Mittelalter. Mein Tanzselbstbewusstsein unterlag den grausamen und finsteren Ritualen in verborgenen schimmligen Kellern schlechter Gedanken, ziemlich nah am Boden, am Boden zerstört; das erste Mal im Leben geriet ich irgendwie zum wiederholten Male in ein und dieselbe Schlinge, abgesehen davon, wie ich mich bemühte, diese Erkenntnis von mir zu schütteln und etwas zu tun, was man als Fortschritt bezeichnen könnte. Wie ein scheues Reh versuchte ich Gesprächen mit meinen früheren „Mitschülern“ auszuweichen, TangoschülerInnen, die mittlerweile bereits bei den Anfängerkursen 2 und 3 und sogar schon bei den Fortgeschrittenen 1 und 2 ihre Tanzbeine schwangen. Ehrlich gesagt, die Letzten traute ich mich nicht einmal mehr zu grüßen. Es war einfach zu peinlich. Generationen von Tangueras und Tangueros überholten mich von links und von rechts. Unser Lehrer teilte in meiner Anwesenheit die Tänzer nach den Kenntnissen in Gruppen ein, und ich… rührte mich nicht vom Fleck. Traute mich nicht einmal zu fragen, wie es denn eventuell mit meinen Aufstiegschancen stünde, denn es war mir ziemlich klar, ok, zumindest das war für mich kein Neuland, dass es nicht gehen würde und dass ich definitiv nirgendwohin gehen würde. Ja… und ich wechselte auch eine schöne Anzahl an Tänzerinnen, die ich später auf den Schulmilongas bewunderte, wie sie unglaubliche Sachen ausführten, ihre Beine um sich schwangen, einmal nach hinten, dann mal wieder nach vorne, um die Knie herum… und manch eine dieser sympathischen Ladies lud mich ab und zu auch freundlich zu einem Kaffee ein. Nach der ersten Verwunderung, dass mich überhaupt jemand irgendwohin einlud, lehnte ich alle Einladungen in der Regel ab und zog mich vorsichtig zurück. Das war auf jeden Fall sicherer. Ich musste zumindest hier auf Nummer Sicher gehen. Dieser seltsame Zustand, in dem ich irgendwie in all dem gesellschaftlichen Beisammensein dieser Personen nicht anwesend war und wo ich selbst nicht wusste, wie mir geschah, man könnte es wahrscheinlich Blockade nennen, überraschte sogar mich selbst. Denn in einer anderen Umgebung hätte ich diese reizenden Ladies doch serienmäßig auf einen Kaffee, ins Kino, ans Meer, zum Skifahren eingeladen, alles auf einmal, alle auf einmal oder hintereinander. Nur ja keine Chance auslassen. Aber zu diesem Zeitpunkt meines Daseins war mein Selbstbild völlig im Schema des Umfangs meiner Tangokenntnisse eingefangen, am Boden zerstört, verbannt in dem ungeschickten Nicht-Fortschreiten, die Schritte des einst erfolgreichen Karatekämpfers eher jenen eines scheuen Rehs ähnelnd, der einst selbstbewusste Mann höflich demütigend, sich in die Erde verkriechend, auf dem Boden der Tatsache bleibend. Nein, mein Leben war kein Wunschkonzert. Weit davon entfernt.
Deshalb fiel es mir – nicht einmal im Traum – ein, zu einer Milonga, der abendlichen Tangoveranstaltung von Tangobegeisterten, zu gehen, zu einer richtigen Milonga, nicht nur zu den Schulpráctica-Milongas, wo sich TangotänzerInnen zum Üben treffen. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit dauerte sicherlich ein oder zwei Jahre. Ich hatte mehr als genug damit zu tun, ein zumindest