Jeder wurde mitgeschleppt. Verwundete sollten nicht zurückgelassen werden. In der Nacht zum 1. Mai kamen General Busse mit seiner Armee und General Wenck mit seinen Divisionen bis zur Elbe.
In Tangermünde gab es früher eine Brücke über die Elbe. Sie war von den zurückweichenden deutschen Truppen zerstört worden, um hier die westlichen Alliierten aufzuhalten. General Wenck kannte diese Brücke. Das waren schwere Eisenkolosse, die massiv aus den Wassern der Elbe herausragten.
Die gesunden Soldaten formierten Sicherheitsketten über diese Brücke. In der Nacht und am Morgen vom 1. Mai 1945 wurden hier über hunderttausend Soldaten der Neunten und der Zwölften Armee und über dreihunderttausend Zivilisten über die Elbe in den Westen geschleust. Damit kamen sie hinter die amerikanischen Linien. Unnötiger Ballast musste zurückgelassen werden. Man rettete das nackte Leben. Viele Verwundete wurden mitgenommen.
III.
Wo war mein Vater geblieben? Seine eigenen Aussagen sind widersprüchlich und zweifelhaft. Mein Vater sagte, er wäre in die russische Kriegsgefangenschaft geraten. Danach muss er in Frankfurt an der Oder zurückgeblieben sein, um Hitlers Wunsch gemäß die Festung bis zum letzten Mann zu verteidigen. War mein Vater Hitlers letzter Mann?
Bereits 1946 hatte er wieder eine Anstellung als Verwalter eines Gutes in Norddeutschland. 1947 besuchte er meine Großeltern in Bochum. Ich flüchtete erschreckt vor dem fremden Mann unters Bett. 1948 wurde mein Vater von meiner Mutter geschieden. 1949 war er wieder verheiratet.
Bremen 1992. Nach einem schweren Schlaganfall war mein Vater linksseitig gelähmt. Er brauchte Hilfe zum Laufen und zum Essen. Er brauchte Hilfe, um sich überhaupt bewegen zu können. Sprechen konnte er nur wortweise, Fetzen. Mein Vater hatte sein ganzes Leben lang niemals über den Krieg gesprochen. Typisch waren seine Handbewegungen, mit denen er alles von sich wies. Gefürchtet waren seine Zornausbrüche. Jetzt versank er langsam in die Nacht des ewigen Schweigens. Nur einzelne Bilder tauchten ab und zu wieder auf. Auf gezielte Fragen antwortete er selten. Trotzdem wagte ich mich vorsichtig vor.
„Als du in die russische Gefangenschaft kamst, hast du den ganzen Marsch bis Sibirien mitgemacht?“ Schweigen.
„Wie ist es aber möglich, dass du schon 1946 oder 1947 wieder in der englischen und amerikanischen Zone zurück sein konntest?“
Hierauf reagierte mein Vater:
„Wir waren eine ganze Gruppe. Ich hatte ein paar gute Kameraden. Die gaben mir Ratschläge, wie ich glaubwürdig seuchenverdächtig werden konnte. Die Russen hatten einen Horror vor der Seuchengefahr. Wir wurden entlassen.“
Die Russen? Die Russen kannten das Wort „entlassen“ nicht. Sie haben ihre Toten an den Straßenrändern liegen gelassen. Wer umfiel, bekam einen Tritt, wenn er Glück hatte, bekam er eine Kugel in den Kopf. Um Seuchen, Typhus und Ungeziefer kümmerte sich keiner. Täglich starben Tausende daran. Die hygienischen Verhältnisse waren schlimmer als in den dreckigsten Viehställen. Ärztliche Versorgung und Behandlung gab es überhaupt nicht. Seuchenverdächtig? Glaubwürdig?
Die letzten Erzählungen meines Vaters lassen eher vermuten, dass er mit den Generälen Wenck und Busse über die Elbe kam und in die amerikanische Gefangenschaft marschiert war.
Hier hatte man allerdings Angst vor der Seuchengefahr. Millionen von Soldaten gaben sich in Deutschland auf engstem Raum ein Stelldichein. Hinzu kamen zwölf bis fünfzehn Millionen Flüchtlinge, Millionen von Kriegsgefangenen, von Häftlingen der Konzentrationslager, von befreiten Strafgefangenen und Zuchthausinsassen. Das alles vagabundierte ohne Unterkunft in Kleindeutschland herum. Alle hungerten. Alle waren verdreckt und voll von Ungeziefer. Alle waren von Diphtherie und Typhus verseucht.
Die Amerikaner und Engländer versuchten so gut es ging, ihre Soldaten zu isolieren. Nahkontakte mit Deutschen mussten vermieden werden. Fraternisieren war verboten. Umgang zwischen Deutschen und Alliierten war nicht erlaubt.
Das galt auch für die Millionenheere von Kriegsgefangenen. Kranke und Seuchenverdächtige wurden ausgesondert und entlassen. Man entledigte sich ihrer. Das wussten die Gefangenen auch. Aller Wahrscheinlichkeit nach war mein Vater in die amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten.
Warum hielt er bis zu seinem Tode daran fest, er wäre in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen? Wollte er noch siebenundvierzig Jahre nach dem Krieg den letzten Vaterlandsverteidiger spielen? War die russische Gefangenschaft ehrenhafter?
Er hat die Wahrheit mit ins Grab genommen.
IV.
Wie auch immer, mein Vater war noch mal davon gekommen. Alles, was er jetzt im Kopf hatte, war Essen. Sein ganzer Körper bestand aus einem knurrenden Magen. Doch wohin sollte er gehen? Ein Zuhause gab es nicht mehr. In Schützensorge saßen die Russen und die Polen. Nach dem Potsdamer Abkommen von August 1945 wurde Schützensorge polnisch. Alle Deutschen wurden rausgeschmissen oder ermordet.
Mein Großvater wurde nach dem Potsdamer Abkommen von seinem Hof in Schützensorge vertrieben. Er flüchtete mit seiner Familie bei Frankfurt an der Oder über eine der letzten intakten Brücken auf das linke Oderufer. Er marschierte einen Tag lang auf der Autobahn in Richtung Berlin. Dann gab er auf. Sich mit den Flüchtlingsmassen nach Berlin treiben zulassen war sinnlos. Das zerstörte und besetzte Berlin war die Hölle.
Ungefähr zwanzig Kilometer westlich von Frankfurt an der Oder blieb er in Briesen/Mark auf dem Lande sitzen. Laut Potsdamer Konferenz sollte dieses Fleckchen Erde deutsch sein, was immer man damit meinte.
Mein Großvater verschaffte sich wieder Ziegen, Schweine, Hühner und Gänse. Alles war im Kleinformat. Das war kein Bauernhof. Den hätte ihm das von den Russen installierte SED-Regime auch wieder weggenommen. Mein Großvater wirtschaftete nur für den eigenen Bedarf und für die lebensnotwendigen Tauschgeschäfte.
Den Hof in Schützensorge übernahm sein polnischer Arbeitssklave. Er brauchte zehn Jahre, bis der Hof abgewirtschaftet war, dann übernahm er einen anderen Hof. Die Polen konnten jetzt nach Belieben wählen, verbrauchen und wegschmeißen. Siegestaumel, Rache, Inkompetenz und menschliche Verrohung produzierten im Osten ein Desaster nach dem anderen.
Als ich 1986 den Hof besuchte, den mein Vater in Warta verwaltet hatte, war dieser zur Ruine zerfallen.
V.
In Warta traf ich Halina Sowala. Halina war 1986 ungefähr achtzig Jahre alt. Während des Krieges hatte sie für den deutschen Kommandanten von Warta gearbeitet. Sie war eine akademisch ausgebildete Deutschlehrerin. Sie sprach ein akzentfreies Deutsch. Sie dolmetsche für mich.
Ihr Mann hatte als Pfleger in der Psychiatrischen Anstalt von Warta gearbeitet. Er konnte sich an meinen Vater erinnern.
„Herr Fritsche? Ja der! Er war mit dem Gärtner der Anstalt befreundet. Die beiden betrieben ein privates Tauschgeschäft, Eier gegen Gemüse und dergleichen.“
Ja, das war mein Vater. Naturalien beschaffen und mit Lebensmittel tauschen, auf dem Gebiet war er zu Hause. Noch bis er starb, bekam er von dem einen seine Äpfel, von dem anderen seine Kartoffeln. Zu Weihnachten kam er mit Karpfen und Wildbret nach Hause. Nach Berlin brachte er mir Gänse und Enten mit. Das waren alles Tauschwaren. Ich helfe dir und du gibst mir. Das war ein Teil seines Genmaterials. Solange ich in Berlin wohnte, bekam ich gratis Kartoffeln, Mohrrüben und Kohlköpfe von Bauern, denen mein Vater behilflich gewesen war.
In Warta lösten diese Erinnerungen die Starre der Fremdheit. Man hatte gemeinsame Freunde also befand man sich in der Gesellschaft von Freunden. Der Mann von Halina lächelte jetzt zum ersten Mal. Hier öffnete sich ein ganz anderes Kapitel des Zweiten Weltkrieges für mich.
Halina