Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens. Heide Fritsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heide Fritsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524858
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mich sprechen.

      „Sie sehen genau wie ihre Mutter aus“, sagte sie. Ich fühlte mich gar nicht geschmeichelt. Meine Mutter war kein Vorbild für mich. Derartige Gleichsetzungen beleidigten mich empfindlich. Außerdem war dies eine Zeit, wo ich schon dabei war, alle Verbindungen zu meiner Mutter abzubrechen. Aber das ging niemanden etwas an. Darüber sprach ich nicht. Ich wollte mich schnellsten von dieser Dame verabschieden. Ich stand auf, um zu gehen, da sprach die Dame hastig weiter:

      Ich habe ihre Mutter gekannt. Sie hat uns das Leben gerettet. Ich war als Rote Kreuz Schwester für ein Flüchtlingslager verantwortlich. Ihre Mutter war in Landsberg an der Warthe Köchin für die russischen Soldaten. Jeden Abend hat sie alle Essensreste in Papier eingepackt und am Lagerzaun eingegraben. Nachts haben wir von der anderen Seite einen Tunnel gegraben und uns diese Essensreste herausgeholt. Das war in Wochen und Monaten das einzige Essen, das wir hatten. Damit haben wir überleben können.“

      Wie und warum wurde meine Mutter Köchin in Zhukows Armee in Landsberg an der Warthe? Es ist möglich, dass meine Mutter in Schützensorge die Überlebenden der polnischen Heimatarmee wieder fand. Mit denen hatte sie jahrelang in Warta kollaboriert.

      Tante Ingeborg, die dritte Frau meines Vaters, sagte verächtlich: „Sie lebte mit einem Russen zusammen.“

      „Einem Offizier, sagte sie mir.“

      „Ach was, das soll ein ganz gemeiner Soldat gewesen sein, sagt dein Vater.“

      Möglicherweise war dieser „ganz gemeine Soldat“ ein Mitglied der polnischen Heimatarmee, den sie schon von Warta her kannte. Ihr Haus in Warta war das Hauptquartier des polnischen Widerstands gewesen.

      Ich wurde in Warta in der Bruchstraße Nummer eins geboren. 1986 hatte ich auf meiner Reise nach Warta ein Bild von diesem Haus bei mir. Ich habe die Einwohner gefragt, was sie mir hiervon erzählen konnten. Die einzigen Informationen, die ich bekam, waren verlegende Bemerkungen:

      „Das war das Hauptquartier des polnischen Widerstands.“ Die Frauen flüsterten. Die Angst schnürte ihnen noch immer die Kehle zu.

      „Da hauste der Widerstand.“ Die Blicke streiften verlegen nach rechts und links. Hoffentlich hörte das niemand.

      „Ach das da, da wohnte ein Russe.“ Das war von einer wegwerfenden Handbewegung begleitet. An solche Dinge zu rühren war unbehaglich und peinlich.

      Der Abstand zwischen dem Haus in der Bruchstraße Nummer eins und dem Hauptportal der Psychiatrischen Anstalt aus der deutschen Besatzungszeit betrug kaum fünfzig Meter. Dieses Hauptportal wurde von der SS bewacht. Zwischen der SS und der Bruchstraße Nummer eins waren keine Sträucher und Bäume. Die SS hatte damit über dieses Grundstück eine totale Aufsicht und Kontrolle – glaubte sie.

      Dass sich hier das Hauptquartier des polnischen Widerstands etabliert hatte, direkt vor den Augen der SS, soviel Frechheit hatten nicht einmal Himmlers Schergen für möglich gehalten!

      Um zu verstehen, warum meine Mutter als Polin in Zhukows Armee integriert werden konnte, muss man die Geschichte der polnischen Widerstandsbewegung kennen.

       VII.

      Die Geschichte des polnischen Widerstands ist eine Tragödie. Am 1. September 1939 wurde Polen von deutschen Truppen besetzt. Am 27. September 1939 gründete eine Gruppe von polnischen Offizieren unter General Korasievicz-Tokarzewski die „Polnische Sieges Partei“. Der Kampf sollte im Untergrund fortgesetzt werden.

      Im November 1939 wurde von der neuen polnischen Exilregierung in London die „Union des bewaffneten Kampfes“ gegründet. Diese beiden Organisationen waren die Grundlage der polnischen Widerstandsbewegung, der „Armia Krajowa“.

      Die „Armia Krajowa“ wurde durch rechtsgerichtete Gruppen verstärkt. Dazu gehörten die „Nationale bewaffnete Streitmacht“, die “Nationale Militär Organisation“ und der ehemalige polnische Pfadfinderverein. Die Pfadfinder formten einen eigenen geheimen Sturm-Trupp. Außerdem gab es eine kommunistisch geleitete polnische Widerstandsgruppe, die „Gwardia Ludowa“.

      Mehr als fünfundsiebzig Prozent der Widerstandsgruppen gehörten zur „Armia Krajowa“, zur polnischen Heimatarmee. Die Heimatarmee hatte zusammen mit den Bauernbataillonen vierhundert Tausend Mitglieder. Sie bildete damit die absolute Mehrheit. Die „Gwardia Ludowa“ war verschwindend klein und unbedeutend. Zusammen mit den kleineren Widerstandsverbänden und Partisanengruppen kontrollierte sie über zehntausend Mann.

      Die „Gwardia Ludowa“ war in Großstädten etabliert. Unterstützung hatte sie bei den Arbeitern. Auf dem Lande hatte die kommunistische Widerstandsbewegung keine sicheren Zufluchtsorte. Sie war hier nicht repräsentiert. Darum ist es unwahrscheinlich, dass die „Gwardia Ludowa“ ihren Hauptsitz in Warta hatte, denn Warta war und ist ein kleines verschlafenes Städtchen auf dem Lande. Das war kein Milieu für die „Gwardia Ludowa“.

      Warta lag abseits von den großen Truppentransportwegen nach Warschau und zur Ostfront. Die waren gut bewacht. Hier hatte die deutsche Armee eine totale Kontrolle. Demgegenüber lag Warta strategisch günstig zwischen den großen Truppenansammlungen der SS wie dem Hauptquartiert der SS in Posen, dem Auffanglager der SS in Zdunska Wola und den großen Konzentrationslager von Lódz, Warschau und Konin. Von Warta aus konnte man über das Flüsschen die Warthe kleine, halb zugewachsenen Wasserwege erreichen. Dieses Wasserwegsystem ermöglichte eine geschützte und von den von Deutschen kontrollierten Straßen unabhängige Verbindung nach Posen und Warschau.

      Das Haus in der Bruchstraße Nummer eins lag nicht einmal zweihundert Meter von der Warthe entfernt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte die „Armia Krajowa“ ihr Hauptquartiert in Warta in der Bruchstraße Nummer eins.

      Die Heimatarmee vertrat in Polen die konstitutionelle Exilregierung in London. Das galt sowohl für das Generalgouvernement als auch für die Reichsgaue. Von London und Washington wurden sie aufgefordert, mit Moskau zusammen zu arbeiten. Moskau weigerte sich, ihre Existenz überhaupt anzuerkennen. Eine Zusammenarbeit war unter solchen Bedingungen unmöglich. Das führte zu katastrophalen Niederlagen für die Heimatarmee.

      Am 4. Januar 1944 marschierte die Rote Armee in Wolhynien ein. Die Wehrmacht war im Rückzug. Hier begann die Befreiung Polens. Aber die Sowjetunion betrachtete Wolhynien als sowjetisches Eigentum, denn im November 1943 war auf der Konferenz in Teheran Europa in Ost und West eingeteilt worden. West- und Süd-Europa fielen unter angloamerikanischen Einfluss und Ost-Europa unter russischen. Ganz Ost-Europa schwamm in einem politischen Vakuum. Polen fiel unter russische Okkupation und Kontrolle. Polen gab es per Definition nicht mehr. Die polnische Exilregierung in London wurde hierüber nicht informiert.

      Als die Rote Armee in Polen einmarschierte, hatte sie eine eigene polnische Regierung mitgebracht. Sie war nicht von den Polen gewählt. Sie hatte keine Verbindung mit der Exilregierung in London. Diese Regierung war von den Sowjets zusammengesetzt und ernannt worden. Das waren Schaufensterpuppen für die sowjetische Machtübernahme.

      1939 hatten die Engländer und Franzosen den Krieg an Deutschland erklärt, weil die Deutschen Polen überfallen hatten. Die Engländer und Franzosen kamen ihren polnischen Freunden zur Hilfe. Sie wollten Polen verteidigen. Das wurde über alle Medien in den Äther trompetet.

      Zum Schluss führten die Engländer und Amerikaner den Krieg um des Krieges willen. Zum Schluss wollten sie die absolute Vernichtung, wollte sie Opfer, Rache und Vergeltung. So wurde es in alle Welt hinausposaunt.

      Opfer, Rache und Vergeltung für was? Jedenfalls nicht für den Einfall der Deutschen Armee in Polen, denn Polen wurde in diesem Siegesgeschrei vergessen. Vergessen wurde sein Schicksal in Teheran, Jalta und Potsdam. Vergessen wurden die Überlebenden, vergessen wurde die polnische Exilregierung in London.

      Nach dem Krieg wurde die polnische Exilregierung in London von den Russen nach Warschau eingeladen. Mit der von den Sowjets eingerichteten provisorischen Regierung sollten sie zusammen eine neue Regierung der Polnischen Republik etablieren. Das versicherten die Sowjets.