Genauere Auskunft habe ich von seiner Rolle während der Flucht. Als sich die Verteidiger des Dritten Reiches im Osten in die letzten Festungen verschanzten, landete mein Vater in der Festung Frankfurt an der Oder. Das Gebiet um Frankfurt an der Oder war sein Heimatboden. Hier war er aufgewachsen, hier lag der Hof seiner Vorväter. Mein Vater kannte im Landkreis Landsberg an der Warthe jeden Bauern, jedes Wirtschaftsunternehmen, jeden Hof, jede Klitsche, jedes Huhn und jedes versteckte Schwein im Wald. Darum bekam er die Aufgabe, die nötigen Vorräte für eine längere Belagerung der Festung Frankfurt an der Oder aufzutreiben. Er ging mit Eifer ans Werk, rigoros. Wo was zu holen war, wusste er.
Dieses skrupellose Vorgehen verbitterte meine Mutter. Laut Kriegserlass war sie für die Verwaltung des Hofes in Schützensorge zuständig. Ob sie dazu fähig war oder nicht, spielte keine Rolle. Sie durfte ihre Einsatzstelle nicht verlassen. Aber alle Vorräte wurden nach Frankfurt an der Oder geschaffen, auch vom Familien- und Erbhof meines Vaters. Meine Mutter und die Familie meines Vaters saßen draußen auf dem Lande und hungerten.
Mein Vater verschanzte sich mit seinen Kameraden in Frankfurt an der Oder. Meine Mutter aber war wie alle anderen Menschen gnadenlos der Mordlust der russischen Armee ausgeliefert.
Als die Rote Armee reichsdeutsches Gebiet betrat, veränderte sie ihre Taktik, Moral und Ethik. Es begann ein bestialisches Morden, Plündern und Vergewaltigen. Jeder menschliche Maßstab ging verloren. Die Russen und Polen überfielen die Flüchtlingskolonnen. Sie schossen wild in die Flüchtlingskolonnen hinein. Sie schlugen alle tot, die ihnen in den Weg kamen. Alle Frauen wurden vergewaltigt, gleichgültig, wie alt sie waren, gleichgültig ob das kleine Kinder oder alte Frauen waren.
Alles, was meiner Mutter blieb, waren ihre Angst, ihre Schmerzen, ihr Hunger und ihr Hass
Ihren Hass hat meine Mutter nicht verdrängt. Den hat sie kultiviert. „Die saßen sicher in ihrer Festung. Die hatten genug zu essen. Für ein Butterbrot konnten die jede Frau bekommen.“
Die Rote Armee bereitete sich unterdessen auf den letzten Ansturm von Berlin vor. Marschall Zhukow stand immer noch im Warthebruch und Oderbruch. Am liebsten hätte er sowohl Küstrin als auch Frankfurt an der Oder links liegen gelassen. Er hatte Lust, direkt nach Berlin zu marschieren. Er hätte gerne die Hauptstadt des Deutschen Reiches noch vor Marschall Konjew erreicht. Die beiden Marschälle lagen im Wettstreit miteinander. Stalin wusste dies auszunutzen. Sein Befehl an Marschall Zhukow lautete: Er solle zuerst im Oderbruch aufräumen.
Während dessen saß man in der Festung Frankfurt an der Oder und wartete auf die Russen. Die Verteidigung dieser Festung wurde sorgfältig vorbereitet. Von Frankfurt an der Oder führte eine gut ausgebaute Autobahn direkt nach Berlin. Auf dieser Autobahn hätte die gesamte Rote Armee in ein paar Stunden nach Berlin vorrücken können.
General Busse leitete in Frankfurt an der Oder die deutsche Neunte Armee. Goebbels als Reichsverteidigungskommissar zeigte besonderes Interesse für diese Festung. Er legte im Februar 1945 General Busse einen offiziellen Besuch ab.
Am 3. März 1945 kam Hitler persönlich. Der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht hatte eine Lagebesprechung mit General Busse. Im gewohnten Elan plante Hitler im Oderbruch. Mit wilden Handbewegungen führte er Angriffe mit Armeen durch, die nicht mehr existierten. Er erteilte aberwitzige Befehle, die den örtlichen Gegebenheiten keine Rechnung trugen. Viele Soldaten starben unnötig.
II.
In Frankfurt an der Oder aber bereitete man sich psychisch und physisch auf die rote Armee vor. Noch immer kontrollierte man die letzten Brücken über die Oder, noch immer beseelte alle ein letzter Optimismus, noch immer herrschten hektische Aktivitäten. Alle Kräfte wurden zur letzten Verteidigung aufgeboten.
Aber die Motive zum Kampf waren so buntscheckig wie die Verteidigungsreihen des Volkssturms. Selbst noch in der letzten Verteidigung konnten nicht alle Emotionen unter Kontrolle gebracht werden. Jeder beobachtete jeden. Jeder beargwöhnte jeden. Jeder verdächtigte jeden. Nicht einmal innerhalb der einzelnen Führungskommandos herrschte Einheit, auch nicht in den Reihen der SS, besonders hier nicht.
Vor dem Untergang hatten sich alle Kampfhähne der Nazikommandos noch einmal in Frankfurt an der Oder versammelt. Mit Anpöbeleien, rüden Anpfiffen, Lümmeleien, Kompetenzkabalen, weltanschaulichem Geschwafel und mystifizierenden Sentimentalitäten flohen sie vor einer Wirklichkeit, die sie nicht ertrugen und die sie nicht akzeptieren konnten.
Doch die Duodezfürsten der Hauptämter fehlten in der letzten Verteidigungslinie. Sie versuchten, sich auf ihre Art zu retten. Typen wie Bormann und Eichmann verschwanden klammheimlich. Der Gauleiter vom Warthegau, Greiser setzte sich geschickt nach Oberbayern ab. Er glaubte, die amerikanische Gefangenschaft wäre vorteilhafter als die russische. Er sollte sich täuschen. Die Amerikaner lieferten ihn nach Warschau aus, wo er nackend in einem Käfig herumgefahren wurde. Himmler und Göring feilschten mit den Alliierten. Der eine bot seine Juden als Zahlungsmittel an, der andere imaginäre Wehrmachtseinheiten.
Für wieder andere gab es nichts mehr zu feilschen. Sein oder Nichtsein, das war die Frage. Goebbels und Hitler wünschten lieber das Nichtsein aller Deutschen als ihr eigenes. Zum Schluss blieb ihnen nur die Wahl der Todesart. In der Götterdämmerung waren die Großen des Dritten Reiches nur noch eine aufgelöste, gesichtslose Herde von Unpersönlichkeiten, leeren Existenzen und ausgelaugten Typen.
In den letzten Festungen aber stand die zweite und dritte Garde, standen die letzten Enthusiasten, Fanatiker, Unbelehrbaren und Verzweifelten. Hier standen die, die nichts mehr zum Feilschen hatten, nicht einmal ihre aufgeblasene Phantasie.
Versammelt waren die mittleren und kleinen Parteifürsten, die mittleren und kleinen Sultane der SS-Ämter. Die Welt im Diminutiv. Das war der aufgeblasene Popanz des Tausendjährigen Reiches. Das waren charakterliche Durchschnittstypen, kleine Schweinehunde mit kleinen Schwächen, kleinen Trieben und kleinen Verstiegenheiten. Die Kleinheit der Göttertypen des germanischen Himmels winselte vor der Größe der Katastrophe, die sie heraufbeschworen hatten. Die Multiplikation aller dieser Nullen führte zum großen Desaster.
In Frankfurt an der Oder saßen sie nun und warteten auf den Feind. Sie vertrieben sich die Zeit mit Intrigen, Klüngel und Affären.
Inzwischen strömten die Flüchtlinge herein. Mit den Flüchtlingen kamen die Nachrichten von den unsagbaren Grausamkeiten der Roten Armee und der zivilen polnischen Bevölkerung. Die Deutschen der Ostgebiete wurden tierisch misshandelt, ermordet, verschleppt, ausgeplündert. Alles Essbare, aller Besitz und alle Kleidung wurden ihnen weggenommen. Einige Flüchtlinge wurden sofort erschossen, erschlagen und zu Tode gemartert. Die anderen starben langsam an bestialischen Quälereien, manchmal über Jahre hinaus. Sie starben an Seuchen, Ruhr, Typhus, Ungeziefer, Hunger, Vergewaltigungen und täglichen Prügeln und Misshandlungen.
Millionen kamen um. Rechnungen wurden nicht geführt. Tote ließ man liegen. Tote wurden nicht registriert. Es gab keine Namen, keine Listen, keine Totenscheine. Sie gelten als verschollen, verschleppt, vermisst.
Über zwei Millionen Deutsche wurden nach dem Krieg als vermisst gemeldet, über sechshundert Tausend Deutsche wurden als verstorben gemeldet. Die Zahlen sind ungenau. Präzise Karteiführungen gibt es hierfür nicht. Sicher ist, dass es nur ein geringer Bruchteil der vertriebenen Deutschen war, die es schafften, über die Oder und Neiße zu kommen. Aber dieser geringe Bruchteil beläuft sich auf eine Ziffer von zwölf bis fünfzehn Millionen. Mit ihnen kam das Grauen.
Die sich als Sieger gebärdeten, hatten sich menschlich noch eine Stufe unter die Bestialität der Deutschen gestellt. Die Überfälle und Verschleppungen der flüchtenden Trecks waren ein millionenfaches viehisches Morden. Nicht einer der Täter hat sich jemals freigesprochen. Man fand nicht einmal mehr die Sprache, dies mit