Die Kestel Regression. Jürgen Ruhr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Ruhr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750222342
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Dr. Friesgart brauchte, das waren Lehrgänge. Eine Erweiterung seines Wissens. Und was käme da besser in Frage, als der Besuch von Fachkongressen? Natürlich auf Kosten der Klinik, denn hier ging es ja um die Weiterbildung eines Arztes mit unbestreitbarem Nutzen für die Psychiatrie. Er, als Vorgesetzter seines Assistenten, müsste lediglich den oder die Anträge entsprechend formulieren. Wer sollte dem jungen Arzt dann eigentlich die so dringend erforderlichen Fortbildungen verwehren? Dr. Barters machte sich auf seinem Zettel ein paar Notizen und rieb sich vergnügt die Hände.

      Dr. Friesgart lehnte sich in dem bequemen Bürosessel zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Sein Blick schweifte durch das große Büro. Hier war alles nur vom Feinsten, Dr. Barters hatte sich bei der Einrichtung nicht lumpen lassen. Aber das zahlte ja ohnehin alles die Klinik. Eines Tages würde er, Dr. Friesgart, hier auf diesem Sessel sitzen. Und zwar nicht nur, wenn der Chef in Urlaub war oder wie jetzt das Wochenende zu Hause genoss. Er warf einen kurzen Blick auf die Wanduhr. Noch blieb ihm ein wenig Zeit, bis er mit diesem Tobias Kestel zu dessen neuer Wohnung fahren musste. Der Mann ging ihm gehörig auf die Nerven und Friesgart graute schon vor den kommenden Tagen, wenn er den Aufpasser spielen sollte. Aber auch die Zeit würde vergehen und sein Ziel waren dieser Chefsessel und dieses Büro. Was bedeuteten da schon einige Tage, die er mit diesem Kestel verbringen musste?

      Aber zunächst beschäftigte ihn hauptsächlich die Frage, ob Barters ihn nun zu den Kongressen mitnehmen würde, oder nicht. Vorsichtig, um ja nichts auf dem Schreibtisch zu verändern, blätterte er in dem Terminkalender. Die ersten Kongresstermine waren schon eingetragen, jedoch fehlte irgendein Hinweis darauf, ob er dabei sein würde. Er blätterte wieder zurück und sorgte dafür, dass der Kalender wieder exakt wie zuvor dalag. Dr. Friesgart zog an der obersten Schreibtischschublade, die bewegte sich allerdings keinen Millimeter. Abgeschlossen. Auch die anderen Schubladen ließen sich nicht öffnen. Friesgart seufzte laut auf. Hier würde er nicht weiterkommen. Dann fiel sein Blick auf Tobias Kestels Unterlagen. Lustlos blätterte er sie durch, ohne Hoffnung etwas Relevantes zu finden. Doch diesmal war ihm das Glück holt. Unter den Seiten fand er Barters handgeschriebenen Zettel mit den zwei Spalten. Friesgart grinste. Hatte der Alte sich ja doch schon Gedanken gemacht! Allerdings befanden sich unter der Überschrift ‚Nachteile‘ mehrere Eintragungen, wogegen bei ‚Vorteilen‘ nur der durchgestrichene Satz stand.

      Und dann entdeckte Dr. Friesgart die Notiz, ihn auf Klinikkosten zu den Kongressen mitzunehmen. Barters hatte sogar ein Wort mehrere Male unterstrichen und mit drei Ausrufezeichen versehen: ‚Fahrtkostenerstattung!!!‘. Der alte Fuchs wollte sich offensichtlich einen Teil der Kosten von der Klinik zurückholen.

      Dr. Friesgart war es egal. Hauptsache er konnte dabei sein! So ein Kongress ließ sich immer mit einem netten Kurzurlaub verbinden, wenn man es verstand, die Situation auszunutzen. Mit ein wenig Geschick fiel es niemanden auf, wenn er diese uninteressanten Vorträge schwänzen und anderen Interessen nachgehen würde. Er musste lediglich zusehen, nicht zu weit vorne zu sitzen. Und wer wusste denn schon, welche Gelegenheiten sich noch ergeben würden? Da waren die Kolleginnen nicht besser als die Männer: Kaum von zu Hause fort und ohne störenden Anhang suchten auch sie amouröse Abenteuer.

      Und dieser Tobias Kestel würde schon auf sich selbst aufpassen können. Schließlich war der Mann geheilt, was sollte also schon passieren?

      Ein Blick auf die Uhr sagte Dr. Friesgart, dass er schon seit zehn Minuten bei Kestel sein sollte. Hastig, aber sorgfältig, legte er die Papiere wieder auf den Schreibtisch. Nichts würde Dr. Barters verraten, dass er hier gewesen war. Dann erhob er sich wohlgelaunt und begab sich zu Tobias Kestel.

      „Herr Doktor, ich dachte schon, sie hätten mich vergessen“, begrüßte ihn Tobias Kestel, der fertig angezogen neben einem kleinen Koffer stand. Friesgart konnte sich gut vorstellen, dass der Mann ungeduldig auf ihn gewartet hatte.

      „Keine Sorge, ich habe sie nicht vergessen. Ich musste nur noch ein paar dringende Dinge erledigen. Sind sie fertig, können wir gehen?“

      „Ja, Herr Doktor.“ Kestel nahm seinen Koffer auf und folgte dem Arzt durch die Klinikgänge in die Freiheit.

      Dr. Friesgart beobachtete den Mann auf dem Beifahrersitz aus den Augenwinkeln. Sie hatten ihr Ziel, Tobias Kestels kleine Wohnung, fast erreicht und fuhren in langsamem Tempo gerade an einem Kinderspielplatz vorbei, auf dem zahlreiche Jungen und Mädchen ausgelassen tobten. Doch Kestel schien sich für das Treiben dort nicht zu interessieren. Er blickte stoisch durch die Windschutzscheibe und sein Gesicht zeigte keine Regung. ‚Prima‘, dachte Friesgart, ‚das kann doch nur ein positives Zeichen sein‘. Sie brauchten für die kurze Strecke von der Klinik nach Köln Chorweiler wegen des Verkehrs nahezu zwanzig Minuten und Kestel hatte während der Fahrt bisher noch kein Wort gesprochen. Aber das kannte Friesgart schon, ihr Patient war noch nie besonders gesprächig gewesen. Sie ließen den Spielplatz hinter sich und der Arzt bog in die Straße, in der Kestel ab heute wohnen würde, ab. Bei den Häusern handelte es sich um eine ganze Ansammlung von Hochhäusern, die auch schon bessere Zeiten erlebt hatten. Kestels Wohnung befand sich in der sechsten Etage, doch es gab zum Glück einen Aufzug. Die Gegend gehörte nicht zu einer der Bevorzugteren, wer hier wohnte konnte sich nichts anderes leisten oder lebte auf Staatskosten. Ein erster Eindruck, der sich auch bestätigt hatte, ließ Friesgart erkennen, dass hier vorwiegend Ausländer lebten. Oder Deutsche mit Migrationshintergrund, was für Friesgart aber dasselbe darstellte. Doch die Mietkosten waren nicht sehr hoch und Tobias Kestel würde sie aus seinen Einkünften im Altersheim bezahlen können.

      Dr. Friesgart hatte Glück und er fand auf Anhieb einen Parkplatz. „So, da sind wir Herr Kestel“, bemerkte er überflüssigerweise, löste seinen Sicherheitsgurt und stieg aus dem Wagen. Ein paar Jugendliche spielten ein Stück weiter auf der Straße Fußball und nutzten eine Hauswand als Tor. Immer wenn der schwere Lederball gegen die Wand flog, gab es ein dumpfes Geräusch, das an das Schlagen einer Trommel erinnerte. Friesgart hoffte nur, dass sein Wagen nicht beschädigt oder zerkratzt wurde. Dies war keine Gegend, in der er sich wohlfühlte.

      Tobias Kestel nahm sein Gepäck aus dem Kofferraum und wandte sich der Eingangstür zu. Sie besaßen beide einen Schlüssel zu dem Haus und der Wohnung. Sobald seine Aufgabe hier erfüllt sein würde, bekäme Kestel seinen Schlüssel ebenfalls. Damit wäre Friesgart die Bürde dieser Betreuung los. Der Arzt freute sich schon auf den Tag, wenn es soweit war.

      Sie fuhren schweigend mit einem Aufzug, in dem es penetrant nach Urin stank, bis in die sechste Etage. Jedes Mal, wenn er hier gewesen war - ob mit Kestel zusammen oder alleine - hatte der Aufzug gestunken. Und jedes Mal wunderte Friesgart sich, unter welchen Bedingungen die Menschen leben konnten. Oder leben mussten.

      Es begegnete ihnen niemand und mit weiterhin reglosem Gesichtsausdruck schloss Kestel die Wohnungstür auf. Sie traten in die Räume und der Arzt öffnete als erstes eines der Fenster im Wohnzimmer. Das monotone Klatschen des Balls gegen die Wand drang lautstark zu ihnen herauf. Doch die Luft in der Wohnung roch muffig und abgestanden, so dass er das Fenster nicht einfach wieder schließen konnte. Tobias Kestel hatte mittlerweile seine Jacke abgelegt und es sich auf einem Ohrensessel bequem gemacht. Sie waren übereingekommen, dass er Friesgart die Couch überlassen und mit dem Sessel vorliebnehmen würde, zumal der Arzt ja auch auf dieser Couch die Nächte zubringen musste. Kestel saß in seinem Sessel und starrte reglos die Wand an. So hatte er in der Klinik stundenlang, ja teilweise auch den ganzen Tag über, dagesessen und sich nur dann geregt, wenn er oder Dr. Barters ihm Fragen stellten. Friesgart führte diese Antriebslosigkeit auf die Opiumpflaster zurück, die Dr. Barters dem Patienten regelmäßig verabreichte. Einige der Wirkungen von Fentanyl waren neben einer euphorisierenden auch schmerzstillende und sedierende. Dr. Friesgart zuckte unbewusst mit den Schultern. Was soll’s, Kestel war schließlich Dr. Barters Patient und es war dessen Therapie.

      Friesgart sehnte sich nach seiner Wohnung zurück, die selbstverständlich in einer wesentlich besseren Wohngegend lag und auch nicht so beengt war. Aber nicht jeder konnte sich vier Zimmer auf einhundertundzwanzig Quadratmetern leisten. Und wenn es mit seiner Karriere weiter aufwärts ging, dann würde er sich ein großes Haus auf einem großen Grundstück vor den Toren Kölns bauen. Einen Bungalow vielleicht. Ungefähr so, wie Dr. Barters.

      Der Arzt ging in die Küche und befüllte die