Die Kestel Regression. Jürgen Ruhr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Ruhr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750222342
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stellte die Tasse neben die Kaffeemaschine und blickte auf ihre Uhr am Handgelenk. „So, Arbeitsbeginn“, stellte sie fest. „Für dich, ich muss immer etwas früher anfangen. Dann komm mal mit, Tobias Kechel!“

      „Kestel, Tobias Kestel“, korrigierte er sie. Doch das hörte Rosi nicht mehr, da sie bereits auf dem Flur unterwegs war. Tobias hatte Mühe, sie wieder einzuholen.

      „Du musst schon etwas zügiger gehen“, beschied sie ihm. „Wir haben keine Zeit zu vertrödeln, dafür gibt es zu viel Arbeit. Nicht rennen, aber zügig gehen.“ Sie zeigte auf eine Tür: „Hier ist die Toilette für die Angestellten. Dort drin gilt absolutes Rauchverbot! Wehe ich erwische jemanden, der dort raucht. Das wird mächtig Ärger geben.“

      „Ich bin Nichtraucher“, erklärte Tobias und folgte Rosi in einen Raum, der unschwer als Küche zu erkennen war.

      „Umso besser, das sind mir die liebsten. Das hier ist die Küche.“ Rosi kicherte. „Unschwer zu erkennen, was? Eine deiner Hauptaufgaben wird sein, bei der Zubereitung der Mahlzeiten zu helfen, Brote für die Bewohner zu schmieren, Kaffee zu kochen und dabei zu helfen, alles zu verteilen. Und hier herrscht absolutes Rauchverbot. Aber du bist ja Nichtraucher. Und es wird nichts gegessen. Wenn ich jemanden beim Essen erwische, dann gibt es Ärger. Mächtigen Ärger. Verstanden?“

      Tobias nickte: „Ja.“

      „Na hoffentlich. Dann komm weiter, ich zeige dir jetzt, wie du in den Keller gelangst. Dort hat der Hausmeister sein Büro und es kann durchaus sein, dass du ihm hin und wieder auch helfen musst. Wie steht es mit deinem handwerklichen Geschick? Kannst du so etwas? Ich meine, Sachen reparieren oder so?“

      „Ja.“

      „Gut.“ Schwester Rosi drückte den Rufknopf für den Aufzug, dessen Türen sich Sekunden später öffneten. Tobias ließ ihr den Vortritt, dann beeilte er sich in die kleine Kabine zu gelangen, bevor die Türen sich schlossen.

      „Der Hausmeister ist diese Woche in Urlaub. Irgendeine Sache mit einer Tante. Aber ich kann dir ja schon mal zeigen, wo das Büro ist.“ Der Aufzug hielt und sie betraten einen schmalen, düsteren Gang. Hier unten roch es feucht und modrig. Und ein wenig nach Motorenöl oder etwas Ähnlichem. Tobias konnte nicht ganz ausmachen, was das war.

      Rosi marschierte derweil zügig durch die Gänge und erklärte, was sich hinter den einzelnen Türen befand. Dabei beschränkte sie sich auf kürzeste Kommentare. „Hier ist die Wäschekammer, dort lagern Vorräte für die Pflege und da ist das Büro des Hausmeisters. Und weiter hinten befindet sich ein großer Raum mit Betten, Nachtstühlen und so weiter. Da lagern alle die Dinge, die wir nicht oben auf Station direkt brauchen.“

      Sie schwenkte herum und ging wieder in Richtung Aufzug. „Du lernst jetzt noch den Frühstücksraum oben auf Station kennen und dann kannst du auch schon mit der Arbeit beginnen. Zunächst musst du dich um’s Frühstück kümmern. Aber das wird dir Schwester Mila alles noch erklären.“

      Als sie in den Frühstücksraum kamen, saßen schon mehrere alte Leute an den Tischen. Die junge Frau, die Tobias fast umgerannt hatte, schenkte Kaffee aus und stellte Körbchen mit Brot und Brötchen auf die Tische.

      „Mila, komm mal her“, befahl Rosi in einem Ton, der unmittelbaren Gehorsam forderte. Die Angesprochene ließ alles liegen und stehen und eilte zu ihnen. „Das hier ist Tobias Kechel“, erklärte sie und zeigte unnötigerweise auf Tobias. Er wird dir in der Küche helfen, also erkläre ihm, was er zu machen hat. Und trödelt nicht herum, es gibt viel zu tun.“ Rosi nickte Tobias noch einmal kurz zu, drehte sich um und verließ den Raum. Bei einigen der alten Leute machte sich Unmut breit, da Mila nicht weiter aufdeckte.

      „Hallo Tobias“, meinte die junge Frau und hielt ihm die Hand hin. „Ich bin Milena Palasz, aber alle nennen mich nur Mila.“

      „Geht’s hier bald weiter? Wir haben Hunger“, wurden sie unterbrochen und Mila wandte sich um: „Sofort. Ich habe auch nur zwei Hände.“

      „Ja, um da herumzustehen und zu quatschen“, kam es gehässig zurück.

      Mila zuckte mit den Schultern und sah Tobias an: „Weißt du, wo die Küche ist? Ich muss hier weitermachen.“ Als Tobias nickte, fuhr sie erleichtert fort: „Morgens ist hier immer Stress, weil jeder als Erster sein Essen bekommen möchte. Siehst du die Teller dort? Davon brauchen wir für jeden Tisch zwei. Wurst und Käse findest du im Kühlschrank. Meinst du, du kannst ein paar Teller fertigmachen und herbringen?“

      Tobias nickte erneut: „Ja.“

      „Gut, ich verteile hier kurz noch Brot, Tee, Kakao und Kaffee und dann komme ich auch in die Küche.“

      Tobias nickte, prägte sich kurz ein, was an Wurst und Käse auf den schon fertigen Tellern war und ging in die Küche. Dort blickte er zunächst in die Schränke und den großen Kühlschrank, um sich einen Überblick zu verschaffen. Kurze Zeit später trat Mila zu ihm.

      „Die Bewohner sind heute wieder furchtbar. Weißt du, ob wir vielleicht Vollmond haben?“, fragte sie, ohne wirklich eine Antwort zu verlangen. „Tobi, wir brauchen noch vier Teller. Kannst du sie schnell in den Frühstücksraum bringen?“

      „Ja, mache ich. Aber nenne mich bitte nicht ‚Tobi‘. Ich hasse diese Kurzform. Tobias ist völlig okay.“

      Mila sah ihn von der Seite an und nickte. „Ja gut, wenn du das so möchtest. Du warst in der Klapse, stimmt‘s?“

      „Psychiatrische Klinik. Aber ich bin wieder vollständig geheilt, sagt mein behandelnder Arzt. Und der muss es ja schließlich wissen.“ Tobias stellte die Teller auf ein Tablet und verließ damit die Küche. Die Kleine ging ihm jetzt schon mächtig auf die Nerven mit ihrem Gequatsche. Und was ging das die Leute an, wo er gewesen war?

      Die Stunden vergingen recht schnell, doch da die Arbeit für Tobias ungewohnt war und das ständige Herumlaufen schon bald schmerzende Füße verursachte, sehnte er den Feierabend herbei. Oft dachte er an seine Tätigkeit in der Schlachterei. Ob er - wenn Dr. Friesgart ihn nicht mehr so intensiv kontrollierte - den Job wechseln konnte? Es ging ja niemanden etwas an, wo er arbeitete, oder?

      Dr. Friesgart erwartete ihn schon in seinem Wagen vor der Tür des Altenheims. „Na, wie geht es Ihnen, Herr Kestel?“, begrüßte er seinen ehemaligen Patienten jovial, als dieser sich in den Beifahrersitz fallen ließ.

      „Gut, nur ein wenig müde. Das viele Laufen bin ich ja nicht mehr gewohnt.“

      „Ja, das kann ich gut verstehen.“ Friesgart startete den Wagen und fädelte sich in den Verkehr ein. „Aber da gewöhnen sie sich schneller daran, als sie denken. Nach ein paar Tagen macht ihnen das nichts mehr aus. Erzählen sie doch mal, wie ist denn ihr erster Tag verlaufen?“

      Kestel stöhnte in Gedanken auf und blickte stoisch durch die Windschutzscheibe. „Gut, Herr Doktor. Es gab viel zu tun. Essen machen, Essen verteilen und so weiter.“ Dann schwieg er und starrte weiter auf die Straße.

      Friesgart, der mehr erwartet hatte, ließ lediglich ein kurzen ‚Aha‘ vernehmen. Dieser Kestel war wirklich kein großer Redner. Wie würde das erst auf den Kongressen werden, wenn man ihm Fragen stellte? Oder wenn er von seinen Eindrücken in Bezug auf die Therapie berichten sollte?

      Die Tage reihten sich aneinander und für Tobias Kestel stellte sich eine gewisse Routine ein. Frühstück, Reinigungsarbeiten, sowie die Aufgaben in Bezug auf das Mittagessen - hier hauptsächlich die Speisen verteilen und sich das Meckern der Leute anhören - füllten seine Arbeitstage aus. Als eine Bewohnerin es besonders schlimm trieb und sie ihn mit unflätigen Schimpfworten wegen des angeblich schlechten Essens bedachte, raunte ihm Mila einmal im Vorbeigehen zu: „Da darfste nichts drum geben, Tobias. Die Leute sind zum größten Teil dement. Die reden nicht extra so. Also hör einfach nicht hin, die meinen es nicht persönlich.“

      Tobias Kestel nickte lediglich. Er hätte der Alten in seinem ‚Atelier‘ damals schon das Schimpfen ausgetrieben. Aber das durfte er niemanden erzählen, das war sein Geheimnis und den Raum im Keller des verfallenen Bauernhofes gab es bestimmt nicht mehr.