Am späten Vormittag kam Mila zu ihm in die Küche, wo er gerade die angelieferten Essen in einen Aufwärmwagen schob. „Tobias, ich brauche mal deine Hilfe. Wir müssen eine Frau mit einem Dekubitus verbinden und das kann ich nicht allein, weil die so schwer ist. Ich warte im Dienstzimmer auf dich. Wie lange brauchst du hier noch?“
„Ich bin fast fertig“, entgegnete Tobias. Es würde sein erster Einsatz in der Pflege sein und er war gespannt darauf. Schnell schob Tobias die letzten Tabletts in die Aufwärmstation. Es wäre noch ein wenig Zeit, bis er sie anschalten musste, damit alle Bewohner pünktlich ihr Essen bekamen. Rasch folgte er Mila in das Dienstzimmer.
Während sie durch den Flur gingen, erklärte sie ihm, was zu tun war: „Wir müssen die Frau auf die Seite drehen. Das ist ein wenig schwierig, weil die so dick ist. Alleine schaffe ich das nicht. Ich sage dir, was du zu tun hast.“
Tobias nickte: „Ja.“
Die Frau lag steif und mit starrem Blick zur Decke in ihrem Bett. Sie war wirklich unheimlich fett, Mila hatte nicht übertrieben. In dem kleinen Zimmer herrschte ein süßlicher Geruch nach Verwesung. Und das, obwohl das Fenster einen Spalt geöffnet war. Tobias fühlte sich sofort an den Schlachthof oder an sein ‚Atelier‘ erinnert. Diesen Geruch nach Tod kannte und liebte er.
„Nun steh da nicht so rum“, fuhr ihn Mila an. „Ich weiß, der Geruch ist fürchterlich. Aber da gewöhnt man sich dran. Atme durch den Mund, dann ist es nicht ganz so schlimm. Und jetzt hilf mir mal die Frau zu drehen.“
Tobias sog die Luft langsam durch die Nase ein. Wie viele Jahre hatte er darauf verzichten müssen? Alte Erinnerungen an schreiende und bettelnde Kinder tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Oder an das angstvolle und panische Quieken der Schweine im Schlachthof, die er nur ungenügend betäubt hatte, so dass sie bei lebendigem Leib verbrüht wurden.
Mila erklärte ihm derweil, was er zu tun hatte und sie drehten die Frau auf die Seite. „Du kannst auf den Gang gehen, während ich sie neu verbinde“, bot ihm Mila an. „Der Anblick ist nicht besonders schön. Ich rufe dich dann, wenn wir sie wieder umdrehen müssen. Aber bleibe vor der Tür, damit ich dich nicht suchen muss.“
Tobias schüttelte den Kopf: „Ich bleibe hier, wenn du nichts dagegen hast. Vielleicht kann ich dir ja helfen, etwas anreichen oder so. Und außerdem lerne ich vielleicht noch ein wenig.“ Er hatte nie daran gedacht und er würde es auch niemals machen, doch Tobias fügte dann noch hinzu: „Ich denke, dass ich vielleicht auch eine Ausbildung zum Altenpfleger machen werde.“
Mila hatte derweil den alten Verband entfernt, reinigte die Wunde, in die Tobias gut und gerne seine Faust hätte stecken können und verband sie anschließend. Hin und wieder warf sie einen kurzen Seitenblick auf Tobias. „Du hältst dich ganz gut“, bemerkte Mila beiläufig. „So mancher oder manche, die so etwas nicht kennen, sind schon würgend rausgerannt.“ Sie deutete auf das Tablett mit dem Verbandsmaterial: „Gib mir doch mal bitte die Rolle mit dem Pflaster dort. Ja genau, die breite.“ Sorgfältig verklebte sie anschließend die Kompresse. „So, das war’s schon. Hilf mir die Frau wieder umzudrehen. Morgen kannst du mir noch einmal helfen. Und jetzt kümmere dich um den Aufwärmwagen, sonst bekommen unsere verwöhnten Schäflein am Ende noch kaltes Essen und was das an Ärger geben würde, willst du gar nicht wissen ...“ Sie lachte leise und stob Richtung Dienstzimmer davon, während Tobias zur Küche ging.
Der nächste Tag begann schon direkt unangenehm. Er bereitete in der Küche wieder die Teller mit Wurst und Käse vor, als aus dem Speiseraum das Gekreische der alten Frau, die ständig etwas zu meckern hatte, drang. Tobias nannte sie im Stillen ‚die Querulantin‘ und überlegte schon, wie man sie unauffällig zur Ruhe bringen konnte. Doch er war sich klar darüber, dass man ihn beobachtete und er sich keine Fehler erlauben durfte. Dr. Friesgart würde ihn schneller, als er denken konnte, wieder in die Klinik zurückbringen.
Mila rauschte an ihm vorbei und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie wischte verstohlen einige Tränen fort und atmete einmal tief durch. „Ich könnte die Alte umbringen“, meinte sie dann leise und mit vor Zorn bebender Stimme. „Die schikaniert uns ständig. Jetzt will sie Salz haben, obwohl es nichts gibt, wofür sie das brauchen könnte. Kein Ei, nichts. Aber so ist sie nun mal. Tobias, sei so gut und bring du ihr einen Salzstreuer. Oben in dem Schrank dort findest du Pfeffer und Salz.“
„In Ordnung“, nickte Tobias. Er wusste, wo sich das Salz befand und nahm einen kleinen, gläsernen Streuer, der randvoll neben einem Pfefferstreuer stand. Dann eilte er in den Speiseraum, wo die Alte immer noch lautstark vor sich hin schimpfte. „Bitte sehr“, meinte Tobias und hielt ihr den Streuer hin. „Ihr Salz.“
Die Frau schlug ihm das Gefäß aus der Hand. „Jetzt brauch ich dat nich mehr“, grollte sie. „Jetz issest auch zu spät.“
Tobias hob den Salzstreuer auf, der zum Glück nicht zerbrochen war.
„Aber den Teller hier, den kannste mitnehmen“, fuhr ihn die Alte an und hielt den Teller mit Wurst und Käse hoch. Tobias sah, dass davon noch nichts gegessen worden war. „Nun mach schon un steh da nich so doof rum!“
Tobias steckte den Salzstreuer in die Hosentasche und griff nach dem Teller, bevor die Frau ihn auf den Boden fallen lassen konnte. Dann beeilte er sich, zurück in die Küche zu kommen.
„Und wofür hat sie das Salz gewollt?“, fragte ihn Mila, die immer noch auf dem Stuhl saß.
„Für nichts. Jetzt sei es zu spät, sagte sie“, erklärte Tobias. „Die ist wirklich schrecklich!“
Am späten Nachmittag rief Mila ihn wieder zu Hilfe, damit sie die alte Frau mit dem Dekubitus erneut zusammen auf die Seite drehen konnten. Wieder roch es in dem Zimmer penetrant nach Verwesung und Tod und Tobias atmete tief durch. Wie sehr er diesen Geruch doch liebte!
„Ja, der Gestank ist schlimm. Irgendein Trottel hat auch noch das Fenster geschlossen.“ Mila öffnete das Fenster und sog durch den Spalt die frische Luft von draußen ein. Tobias hätte ihr fast gesagt, sie solle das Fenster doch ruhig geschlossen lassen, hielt sich dann aber zurück.
Während Mila die Wunde wieder reinigte, betrachtet er das Loch am Gesäß der Frau eingehend. Schwarzes, totes Gewebe wurde von entzündetem, rötlichem Fleisch umschlossen. „Verursacht das starke Schmerzen?“, fragte er Mila.
„Unter Umständen schon“, entgegnete sie. „Hier siehst du“, sie zeigte auf das Fleisch. „Das Schwarze ist totes Gewebe, da spürt sie nichts. Aber dort, dort und dort ist alles entzündet. Da muss man vorsichtig sein, denn das kann schon furchtbare Schmerzen verursachen.“ Sie blickte Tobias mit einem kleinen Lächeln an: „Du hast wirklich Interesse an der Altenpflege, was? Ich finde, das ist ein schöner Beruf. Du kannst den Menschen helfen und erfährst viel Dankbarkeit. Nicht alle sind so, wie unsere Freundin aus dem Speisesaal. Leider sind wir ständig unterbesetzt und dadurch überlastet. Aber das haben die Politiker schon vor vielen, vielen Jahren mit ihren unbedachten Reformen verbockt.“ Sie seufzte laut. „Und wer will solch einen Job noch machen? Wochenenddienste, an freien Tagen einspringen, weil wieder einmal jemand ‚krank‘ geworden ist und dazu noch eine mehr als dürftige Bezahlung. Aber die Herren Politiker verdienen ja genug und lassen sich im Alter privat pflegen.“ Sie deckte die Wunde ab und hielt Tobias dann eine Hand hin. „Gibst du mir bitte das Pflaster?“
Tobias reichte ihr die Rolle.
„Scheiße“, meinte Mila plötzlich. „Die ist ja leer. Wer um alles in der Welt legt eine leere Rolle zurück in die Schublade? Tobias kannst du einen Moment alleine bei der Frau bleiben, ich hole schnell eine neue Rolle.“
„Kein Problem. Ich passe auf sie auf.“
Mila warf ihm noch einen aufmunternden Blick zu und verließ rasch das Zimmer.
Tobias blickte ihr hinterher, bis sich die Türe schloss. Er hatte nicht viel Zeit und mit wenigen Handgriffen