In diesem Moment wurde er durch Mathéo Meunier unterbrochen, der ihn entsetzt ansah. Auch die anderen Kollegen blickten skeptisch und so mancher schüttelte sorgenvoll den Kopf. „Herr Dr. Barters, das wird doch wohl nicht ihr Ernst sein? Ich habe die Geschichte des Tobias Kestel von Anfang an verfolgt und mich oft mit dem Kollegen Fiemrer besprochen. Eine Heilung, so wie sie sie erreicht haben wollen, ist einfach unmöglich.“
Dr. Barters schüttelte den Kopf: „Sie sehen das zu schwarz, Herr Kollege.“ Er betonte das ‚Herr Kollege‘ absichtlich abfällig, um zum Ausdruck zu bringen, was er von dem älteren Arzt hielt. Nämlich eigentlich nichts. „Meine Diagnose basiert auf zahlreichen Beobachtungen, Versuchen und Untersuchungen. Wie ich schon früh in meiner Praxisarbeit feststellen konnte, sind Menschen sehr wohl heilbar. Man muss an das Gute in ihnen glauben, ihnen Mut und Hoffnung geben und sie da...“
„Geschwafel“, unterbrach ihn Meunier erneut. „Auf was für Erfahrungen aus ihrer Praxisarbeit wollen sie sich stützen? Die Behandlung von Alkoholsüchtigen und hysterischen Hausfrauen? Das waren doch ihre Hauptaufgaben in der kleinen Praxis, oder irre ich mich? Und die Stelle in der Psychiatrie haben sie doch nur bekommen, weil ihr Herr Vater der Klinik eine größere Summe gespendet hat. Das können doch selbst sie nicht bestreiten.“
Barters spürte, wie sein Gesicht rot anlief und das machte ihn wütend. „Das tut hier nichts zur Sache, Herr Meunier“, wies er den Alten zurecht. „Die Stelle war vakant und ich der geeignetste Bewerber. Von etwaigen Spenden war mir nichts bekannt.“
„Natürlich nicht, Herr Kollege“, erwiderte Meunier süffisant. Dann aber fuhr er eindringlich und ernst fort: „Tobias Kestel ist eine tickende Zeitbombe. Eine Regression, also der Rückfall in alte Gewohnheiten, ist nahezu vorprogrammiert. Wie wollen sie das verhindern? Mit was für einer Therapie? Oder haben sie ihm das halbe Gehirn weggeschnitten und ihn auf diese Weise geheilt? Wenn sie den Mann auf die Menschheit loslassen, wird er in seine frühere Entwicklungsstufe zurückfallen und das wäre dann die Regression.“ Meunier schmunzelte trotz des Ernstes der Situation und fuhr fort: „Das wäre de facto ein GAR.“
„GAR?“ Barters sah den Kollegen fragend an.
„Eine größte anzunehmende Regression“, erklärte Meunier.
„Sie verkennen die Situation, Herr Meunier. Und sie reden Blödsinn, wenn sie von ‚GAR‘ reden. Meine Therapiemethode ist sicher und es wird keinen Rückfall Tobias Kestels geben.“
Meunier schüttelte den Kopf: „Nein, Herr Dr. Barters, sie verkennen die Situation. Sie verrennen sich da in etwas, das nicht kontrollierbar sein wird. Tobias Kestel ist nicht geheilt, er kann gar nicht geheilt sein. Sie sollten wenigstens noch die Meinung von mehreren Experten einholen, bevor sie solch einen schwerwiegenden Schritt tun und Kestel entlassen.“
Barters stellte das Weinglas abrupt auf den Tisch und warf den kleinen Löffel daneben. Dann richtete er seinen Zeigefinger auf Meunier. „Und einer dieser ‚Experten‘ wollen sie sein, richtig? Nein, nein mein Lieber. Meine Versuche und Beobachtungen sind abgeschlossen, Tobias Kestel ist geheilt. Das können selbst sie mit ihrem angeborenen Pessimismus nicht ins Negative wenden. Kann es nicht einfach nur sein, dass sie mir den Erfolg neiden? Selbst ein Stück vom Kuchen abhaben wollen? Dar...“
Wieder unterbrach ihn der ältere Kollege. Kopfschüttelnd meinte er: „Darüber sollten sie sich keine Sorgen machen, Herr Dr. Barters. Aber bedenken sie bitte auch, dass eine Regression des Patienten ihnen angelastet wird. Wollen sie solch ein Risiko eingehen? Wollen sie riskieren, dass Tobias Kestel erneut mordet? Erneut kleine Kinder zu Tode quält? Denken sie darüber einmal nach!“
„Tobias Kestel ist geheilt. In dieser Hinsicht brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Dies ist ein Fall, den sie nicht beurteilen können, denn ich habe den Patienten nun über ein Jahr therapiert. Ja, ich weiß: Ein Jahr und zwei Monate. Aber das war ich und nicht sie!“
Jetzt meldete sich ein anderer Kollege zu Wort und Barters überlegte, wie der Mann hieß. Es war unwichtig und der Name fiel ihm auch nicht ein. Unwichtig.
„Herr Dr. Barters“, begann der Arzt, dessen Namen mit ‚H‘ anfangen musste. Barters hörte ihm kaum zu. Wie kam es, dass sich plötzlich alle gegen ihn wandten? War es wirklich der pure Neid? Gönnte ihm denn niemand diesen bahnbrechenden Erfolg?
„Herr Dr. Barters. Ich glaube im Namen aller Kollegen hier zu sprechen, wenn ich sie dringend bitten muss, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Lassen sie Tobias Kestel wenigstens von einer unabhängigen Kommission begutachten. Alle unsere Patienten sind Schauspieler. Der eine besser, der andere schlechter. Aber es gibt zahlreiche Methoden ihnen auf den Zahn zu fühlen. Eine so schwerwiegende Entscheidung, wie die Entlassung des Patienten Kestel, sollte nicht ein einziger Arzt treffen.“
Barters wurde zusehends wütender. Was bildeten diese Leute sich eigentlich ein? Wieso maßten sie sich an, seine Entscheidungen in Frage zu stellen und zu kritisieren? „Herr Kollege“, fuhr er den Mann scharf an, „die Entscheidung ist getroffen. Die Klinikleitung hat meiner Empfehlung zugestimmt und mein Assistent, der Tobias Kestel auf seinen Freigängen beobachtet und analysiert hat, geht mit meiner Meinung konform. Sie alle kennen den Fall Tobias Kestel höchstens vom Hörensagen oder von Gerüchten her und können sich daher kein neutrales Urteil bilden. Glauben sie mir, ich weiß was ich tue!“
Meunier meldete sich wieder zu Wort und seine Stimme klang pessimistisch und resigniert: „Hat ihr Herr Vater wieder an die Klinikleitung gespendet? Kein vernünftiger Mensch würde den Patienten Tobias Kestel nur auf das Wort seines behandelnden Arztes entlassen.“
„Was fällt ihnen ein, Herr Meunier!“, brüllte Barters. „Sie deuten damit an, dass die Klinikleitung bestechlich wäre. Ich hätte mir eine sachlichere Diskussion gewünscht, aber nicht diese haltlosen Anschuldigungen! Guten Tag, meine Herren!“
Barters hieb mit der Faust auf den Tisch, so dass sein Weinglas umfiel und einen roten Fleck auf der weißen Tischdecke hinterließ. Dann stürmte er wutentbrannt aus dem Raum.
1. Die Anhörung
Dr. med. Bernard Christian Barters betrachtete sich in dem kleinen Wandspiegel im Badezimmer seines Büros. Was er sah gefiel ihm: Ein Achtunddreißigjähriger mit einem gepflegten Drei-Tage-Bart, einer zurzeit äußerst angesagten, modischen Brille und dem vollen Haarschopf, der ihn bei den Frauen so begehrt machte. Der Maßanzug kleidete ihn ausgezeichnet und die sechstausend Euro waren gut angelegt. Barters fragte sich kurz, ob er mit dem Anzug nicht übertrieben hatte, doch das war sein Markenzeichen: gute und teure Kleidung. Die Lederschuhe kamen auf gut und gerne noch einmal sechshundert Euro, doch auch sie waren Maßanfertigung und er fühlte sich äußerst wohl darin. Ein guter Schneider, ein guter Schuster und natürlich ein guter Coiffeur waren schließlich mit das Wichtigste im Leben. Und gutes Essen, aber das verstand sich ja von selbst.
Barters kontrollierte den Sitz seiner Krawatte, dann blickte er auf die sündhaft teure Uhr an seinem Handgelenk. Noch zwanzig Minuten bis zu der Sitzung, die ihm dieser dämliche Franzose eingebrockt hatte. Barters verdrängte absichtlich, dass Dr. Meunier schon einen Großteil seines Lebens in Deutschland verbrachte und auch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Für ihn war der Mann nur der ‚kleine dicke Franzose‘. Und der hatte es schließlich doch noch geschafft, dass eine erneute Anhörung des Patienten Tobias Kestel erfolgen sollte. Ursprünglich