„Ach, liebe Hexe“, sprach die Taube, jetzt ein wenig traurig, „wie kann ich diese Idealform finden? So lange schon bin ich auf der Suche und habe es noch nicht gefunden!“
„Öffne den Brief, den du im Schnabel hältst. Er enthält die Antwort!“
„Aber der Brief ist doch für dich bestimmt!“ entgegnete das Täubchen. „Den kann ich doch nicht so einfach aufmachen!“
„Natürlich kannst du es. Es ist ein Brief, der um die Welt geht. Auch du kannst seinen Inhalt für dich nutzen.“
Mit etwas zittrigen Flügeln öffnete das Brieftäubchen den Umschlag und da stand: „Alle Schätze liegen in dir. Nutze sie und gebe sie an andere weiter. Dann werden sie dir nutzen.“ Und in dem Moment verstand unser Täubchen, lächelte und ein paar kleine Freudentränen erschienen in seinen kleinen Äugelein. Es bedankte sich und fand seinen Weg ohne fremde Hilfe. Und es lebte lange glücklich und zufrieden ohne Pflichten – aber dafür jetzt mit Spaß!
Die Zusammenkunft der großen Drei
Es war einmal vor langer, langer Zeit, da kamen der Paradiesapfel, die Wolke und das Bild in einer Hütte am Ende der Welt zusammen, um darüber zu diskutieren, wer von ihnen der Wichtigste auf dieser Welt sei. Der Paradiesapfel meinte: „Selbstverständlich bin ich das Wichtigste auf dieser Welt! Nur mit mir können die Menschenkinder überleben. Deshalb bin ich wichtig. Wäre ich nicht, so müssten die Menschen elendig verhungern. Und da ich ein Paradiesapfel bin, bin ich besonders wichtig, denn durch mich werden die Menschen auch noch an das Gute und Schöne erinnert!“
Die Wolke brummelte Unverständliches vor sich hin. „Ja, ja, das ist ja alles ganz lobenswert, was du da erzählst, aber was wäre die Menschheit ohne mich und das Wetter des Lebens? Erst mit mir wird das Leben lebenswert. Nur Menschsein und essen reicht nicht aus. Man muss auch noch mehr von der Welt sehen als nur die Äpfel zum essen. Und das ist nur in Zusammenarbeit mit mir, der Wolke, zu erreichen. Also bin ich das Wichtigste, was die Menschen haben!“ sprach die Wolke und guckte nach diesem Vortrag zufrieden vor sich hin.
„Papperlapapp! Alles nur Gerede!“ toste das Bild. „Was wäre die Welt, wenn die Menschen nichts für das geistige Auge hätten? Sozusagen Nahrung für die Seele? Die Menschenkinder müssen sich uns, die Bilder, ansehen, damit ihr Wissensdurst nach geistigen Gütern gestillt wird. Ohne uns ist die Welt farblos und grau. Erst wir machen die Welt bunt und farbenfroh, so wie sie sein soll! Deshalb sind wir Bilder das Wichtigste auf dieser Welt!“ erzählte das Bild und räkelte sich genüsslich.
Stille entstand in dem Raum in der Hütte am Ende der Welt. Jeder hing seinen Gedanken nach und keiner traute sich im Moment, etwas zu sagen. Jeder spürte, dass etwas in der Luft hing. Und richtig! Eine feste Stimme sprach plötzlich: „Das ist alles gut und schön. Aber könntet ihr hier z.B. so gemütlich diskutieren, wenn es mich, die Hütte, nicht gäbe? Ich mache euch einen Vorschlag. Sozusagen einen Kompromiss. Was würdet ihr sagen, wenn wir alle gleich wichtig sind? Das heißt: der Apfel ist genauso wichtig und genau so viel wert wie die Wolke und genau so viel Wert wie das Bild und wie ich. Jeder ist gleichwertig, denn wir können einer ohne den anderen nicht leben. Deshalb lasst uns diese Diskussion hier abbrechen und uns einfach freuen, dass wir da sind, das wir leben und das jeder dem anderen helfen kann!“
Es dauerte noch eine Weile, bis jeder der Anwesenden begriffen hatte, was die Hütte da gesagt hatte. Aber ganz allmählich nickte ein jeder bedeutungsvoll mit dem Kopf und hatte ein Lächeln auf den Lippen. Und jeder begann, sich bei dem anderen für diese Zusammenkunft zu bedanken und versprach, es den Kollegen draußen in der Welt weiter zu erzählen, wie sie das Geheimnis des friedlichen Miteinanders für immer gelöst hatten.
Das Krokodil im Dornenbusch
Es war einmal eine junge Zigeunerin, die beschlossen hatte, ihren Stamm zu verlassen, um auf eigene Faust die Welt zu erkunden. So vieles gab es hier zu sehen und zu entdecken! Ihr Stamm aber zog immer nur von einer Stadt in die andere – und das gefiel ihr nicht mehr. So irrte sie lange Zeit ziellos durch die Weltgeschichte, lernte dabei aber eine ganze Menge.
Eines Tages kam sie an einen kleinen See. Und weil sie ja genügen Zeit hatte und auch lange genug gewandert war, beschloss sie, am Ufer des Sees eine kurze Rast zu machen. So lehnte sie sich an den Baum und genoss die Aussicht auf den klaren See und die Sonne, die sich darin spiegelte. Am anderen Ufer des Sees konnte sie eine Stadt ausmachen, die weiß blitzte und in der Sonne zu schlafen schien. Rechts neben der jungen Zigeunerin war eine große Wiese und links ein wenig abseits ein Dornenbusch, der undurchdringlich schien. Aber ganz hübsch sah er eigentlich aus, denn er war über und über mit weißen Blüten übersät, die in der Mitte einen roten Blütenkelch hatten. Sie schaute eine Weile stumm auf den friedvollen Anblick, der sich ihr bot, bis ein Grunzen sie jäh aus ihren Träumen von einem Leben mit dem Prinzen Riss.
Verwirrt schaute sie sich um und entdeckte in dem Dornenbusch ein Krokodil, das ganz traurige Augen hatte, aber gar nicht böse aussah, so wie Krokodile das so oft an sich haben. Aber erschrocken war sie doch. „Bitte, tue mir nichts zu leide“, sagte die junge Zigeunerin. „Ich bin in friedlicher Absicht hier.“ Aber zur Antwort bekam sie nur ein Grunzen.
„Warum gehst du nicht in dein Element, das Wasser? Warum steckst du im Dornenbusch?“ Aber wieder bekam sie nur ein Grunzen zur Antwort.
„Na ja, wenn du nicht mit mir reden willst, dann lässt du es eben. Aber störe dann bitte nicht den Frieden und die Idylle hier. Außerdem wäre es gescheiter, du würdest in dein Reich gehen. Das Land ist für die Menschen, dort fühlen wir uns wohl. Ihr Wassergetier und die Fische – ihr gehört ins Wasser, das ist euer Reich.“ Und ohne sich noch um das Krokodil zu kümmern, nahm es seinen Rucksack und entnahm ihm einen Becher und etwas zu essen. Das Krokodil im Dornenbusch wurde nervös, zappelte mit den Beinen, schüttelte mit dem Kopf und schlug wild mit dem Schwanz umher.
„Was willst du denn?“ fragte die junge Zigeunerin Aber wieder war nur ein Grunzen die Antwort. „Vielleicht hast du Hunger? Oder Durst? Gut, ich gebe dir etwas ab. Aber du darfst mich nicht beißen, hörst du?“ Und sie reichte dem Krokodil etwas von ihrem Essen, was er gierig verschlang. Dann stellte sie ihm noch den Becher mit frischem Wasser aus dem See hin und das Krokodil schlürfte daraus.
„Wenn du mir vielleicht erklären könntest, warum du hier im Dornenbusch sitzt? Das würde mich doch stark interessieren. Warum kommst du da nicht raus?“ Wieder zappelte das Krokodil nur stark herum, aber hervor kam es nicht.
„Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?“ fragte sie und diesmal bekam die Zigeunerin so eine Art Nicken zur Antwort. „Ich will dir gern helfen. Aber wie denn?“ Und sie blickte dem Krokodil tief in die Augen und meinte, darin plötzlich Wehmut zu entdecken. Ja! Langsam rann eine kleine Träne aus dem Auge des Krokodils und er machte das Maul auf und riss eine Blüte aus dem Dornenbusch und noch eine und noch eine. Bald war ein Meer von Blüten vor den Füßen der Zigeunerin.
„Ach, das ist schön“, sagte sie. „Du schenkst mir Blumen. Das hat noch nie jemand getan. Ich danke dir, liebes Krokodil!“ Und staunend betrachtete sie die vielen Blüten, über die sie sich freute, aber gleichzeitig taten sie ihr auch Leid. „Liebes Krokodil“, sprach sie, „hast du etwas dagegen, wenn ich die vielen Blüten auf das Wasser lege, damit sie Wasser zum Leben bekommen? Sie tun mir leid. So schön ich sie auch finde. Hier verwelken sie und wenn sie Nahrung bekommen, haben sie eine Überlebenschance.“
Das Krokodil blieb ganz ruhig. Was die Zigeunerin nicht wissen konnte, war, dass das Krokodil genau das bezweckt hatte. Die junge Zigeunerin mit dem großen Herzen für die armen Blumen legte also ganz sacht eine Blüte nach der anderen auf das Wasser und die Blüten verwandelten den See bald zu einem Blumenmeer. Stumm blickte sie noch eine Weile den Blüten hinterher. „So, liebes Krokodil. Wenn ich dir nicht mehr helfen kann, werde ich jetzt weiter