Liebig ging geradewegs ins Schlafzimmer, streifte seine Klamotten ab und ließ sich müde ins Bett fallen. Kopfschmerzen machten sich bei ihm breit.
Kapitel 8
Der Rabe, der große Rabe. Zwischen ihnen nichts als ein altertümlicher Eichentisch mit kunstvollen Ornamenten, auf ihm die obligatorischen Utensilien. Die schwarzen Augen, umhüllt vom pechschwarzen Schatten, scheinen in unendliche Leere zu führen. Flammen flackern über dem vom Kerzenwachs überzogenen Kerzenständer und werfen wild tanzende Schatten an die nackte Wand. Lediglich einzelne Tapetenfetzen verteilen sich über die ausgewetzten, grauschwarzen Wände. Seine Hände sind mit weißen Seidenhandschuhen umkleidet. Er führt den Federkiel zum Pergament und zeichnet große Schnörkel: “Pactum“. Die schwarze Seele bleckt unter dem Anflug eines Lächelns die Zähne. Dann lässt er seine weiße Hand mit der Feder in eleganten Bewegungen weiter über das Pergament gleiten. Mit den weißen Handschuhen über dem Pergament wirkt er wie eine Ballerina beim Tanz übers Parkett …
Liebig schreckte hoch, nassgeschwitzt. Er benötigte in dem stockdunkeln Raum einige Sekunden, ehe er die Realität des Schlafdenkens von der Wirklichkeit trennen konnte und ließ sich wieder ins Kopfkissen zurückfallen. Er blickte auf den Radiowecker neben sich. 05.35 Uhr.
Der Rabenmann beherrschte seine Gedanken nicht nur am Tage, sondern suchte ihn auch in der Nacht heim. Schlaf werde ich heute Nacht wohl keinen mehr finden. Raus aus den verschwitzten Klamotten, warme Dusche, heißer Tee, Laptop hochfahren. Seitdem ihm der Arzt eröffnet hatte, dass er sich begründete Hoffnung machen dürfe den Krebs zu besiegen, war der Rabenmann ständiger Gast in seinem Kopf. Jedoch wusste er, was ihm helfen könnte. So kann es einfach nicht weitergehen. Mittlerweile waren seine Alpträume zu einer erdrückenden Last geworden.
Aus einer kleinen Schachtel mit unzähligen Visitenkarten zog er diejenige hervor, die ihm Aussicht auf Linderung versprach. Das wird mir helfen, auch wenn ich hierfür wieder ein Kapitel meines Lebens öffnen muss, das ich gedanklich schon weit hinter mir gelassen habe.
Liebig setzte sich mit dem Tee in der Hand seitlich auf die Fensterbank und beobachtete das wilde Treiben des Schnees im Dunkeln. Was wird sein, wenn draußen der Frühling erwacht? Die Pflanzen wieder beginnen zu blühen?
Kapitel 9
Windstille. Nach einem Tag meteorologischen Armageddons schien endlich wieder die Sonne. Liebig war so früh unterwegs, dass die Schneedecke überwiegend noch unberührt war. Durch die Straßen schlängelte sich ein großer weißer Fluss, alles und jedes war von einer dicken Schneeschicht überzogen. Langsam und behutsam stapfte er durch das strahlendweiß glitzernde Schneeband auf dem Bürgersteig, entlang der schneeverhangen Alleebäume. Hier hatte es ihm immer schon gefallen. Hinter schmiedeeisernen Zäunen erstreckten sich große Grundstücke, auf denen prachtvolle Jugendstil-Villen thronten.
Liebig erreichte sein Ziel. Vor ihm ragte ein imposanter Zaun empor. Auch wenn das gesamte Grundstück einem riesigen Schneefeld glich, wusste er um dessen Schönheit: Hinter dem Zaun teilt eine kiesbedeckte Auffahrt eine weitläufige Rasenfläche. Die Auffahrt mündet sich vor Kopf der Villa entzwei, umschließt einen von filigranen Verzierungen gespickten Springbrunnen, ehe sich die beiden Teilstücke wieder vereinen und einen Kreislauf bilden. So manch einer würde die Anlage des Hauses protzig finden. Von Eleganz bis maßloser Borniertheit ist es nun mal nicht weit.
Das Klingelschild verriet den Namen: Dr. S. Hoffmann. Liebig atmete nochmal tief durch, bevor er die Klingel betätigte.
„Wen darf ich ankündigen“, knarzte es aus der Fernsprechanlage.
Nachdem Liebig die Auffahrt hinauf gegangen war, öffnete ihm die Hausdame die Tür und geleitete ihn durch die hohe Eingangshalle hindurch ins Kaminzimmer. Er nahm neben einem Bücherregal vor dem knisternden Kamin Platz und wartete auf Hoffmann.
„Andreas …“, sprach eine kraftvolle Bassstimme. Liebig wendete seinen Kopf zur Seite und blickte in das vertraute Gesicht, spürte seine Ruhe ausstrahlende Aura. „Wie gut, dass du dich nicht gescheut hast mich zu kontaktieren“.
„Dr. Hoffmann“. Liebig erhob sich vom Ledersessel und reichte dem in die Jahre gekommenen Mann die Hand. Er trug eine beige Cordhose, darüber einen grauen Kaschmirpullover, an dessen Ausschnitt ein ebenfalls beiger Hemdkragen herausragte. Das eingefallene Gesicht des Doktors lag unter einer dicken Hornbrille. Schütteres, graues Haar setzte unregelmäßig an der hohen Stirn an. Allerdings empfand Liebig Hoffmanns Erscheinung im Geringsten als mitleidserregendes Altersgebrechen. Stets gut gekleidet und die qualmende Pfeife aus dem weißen Bart herausragend, du hast dich wirklich nicht verändert, alter Freund. Liebig erinnerte sich gerne daran, wie Hoffmann sich über die Flut an Rauchverboten echauffierte. Und dies tut er nicht mit der Attitüde eines kleinen Kindes, dem die Mutter das Benutzen seines Lieblingsspielzeuges untersagt, sondern souverän mit dem unerschütterlichen Glauben an die Freiheitsrechte. Auch wenn es hier und da sicherlich etwas überspitzt ist.
Hofmann galt als Koryphäe in seinem Job. Auf dem Gebiet der Psychotherapie sagte man ihm Wunderkräfte nach. Man munkelte, dass ihm Gastauftritte als Redner bei großen Unternehmen fette Honorare bescherten. Dies und das Privileg, sich Mitglied einer mehr als wohlhabenden Familie nennen zu können, reichte um diesen bescheidenen Lebensstil zu finanzieren, dachte sich Liebig, als er sich in dem gemütlich eingerichteten Kaminzimmer umsah. Ich habe definitiv die falsche Berufswahl getroffen
„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, Andreas“.
„Nichts für ungut, aber nicht lang genug“.
„Wie wahr“. Seine starke, aber paradoxerweise doch sanfte Stimme war für die eines Psychologen prädestiniert. Er könnte behaupten, die Sonne drehe sich um die Erde, und ich würde es glauben. Würde es glauben wollen …
Hoffman nahm im Lederstuhl gegenüber Liebig Platz und überschlug die langen Beine. „Wie verläuft deine Genesung?“.
„Bestens, bald habe ich die Chemo hinter mir. Ich meine, ich spüre natürlich trotzdem noch meine körperliche Schwächung. Aber ansonsten geht es mir physisch gut“.
Hoffmann hatte sein Kinn auf der Faust abgelegt und nickte. „Ich hoffe das Beste für dich, Andreas … du hast mir geschrieben, dass dich alte Geister heimsuchen. Verständlich: deine Familie lässt dich nicht los. Das soll sie auch nicht“.
„Es holt mich immer wieder ein, mal mehr und mal weniger“. Liebig verleumdete den wahren Urheber seiner unruhigen Nächte. „Es ist ein innerer Konflikt. Ich möchte das aus meinem Kopf haben, zumindest besonnen damit umgehen können“. Das hingegen ist die Wahrheit.
„So einfach ist das nicht, das weißt du. Es ist ein steiniger, arbeitsreicher Weg, der dich niemals so ganz zu deinem Ziel führen wird. Entscheidend aber ist es sich dem zu stellen, nicht davonzulaufen. Bist du denn auch bereit?“.
Es war stets dasselbe: jedes einzelne Wort Hoffmanns schien die universelle Wahrheit zu sein. Liebig merkte, wie Hoffmann ihn wieder in seinen Bann zog. Der Mann hat irgendetwas Besonderes, dachte er, etwas das seine Autorität in Frage zu stellen verbietet. Die sanfte und doch bestimmte Sprachmelodie eines Sängers, das vertrauenswürdige Aussehen eines Mannes, dem du ohne zu zögern deine Finanzen anvertrauen würdest, die warmherzige Körpersprache von Mutter Theresa und den scharfsinnigen Intellekt eines Genies. Eine sehr überzeugende Komposition. Er schaffte es irgendwas in ihm zu wecken, das ihn in sorgloser Geborgenheit wog.
„Ja, das bin ich. Ich bin bereit“.
„Nun gut, dann freue ich mich, dich bei unseren Gesprächsrunden wieder begrüßen zu dürfen“. Hoffmann breitete die Arme wie zum Segen aus, jedoch ohne zu lächeln. „Morgen Abend,