Kapitel 6
Und bist du nicht willig, so gebrauch ich Gewalt-
Wie ich es hasse. Die Menschen sind verdorben, sich selbst das größte Übel. Die Gesellschaft ist ein gesichtsloser, amorpher Organismus, geleitet von Opportunität, Obszönität und zweifelhaften Idealen. Prinzipien kommen und gehen, haben nicht mehr Beständigkeit als ein Wimpernschlag. Die Menschen sind schon lange Geiseln ihrer dekadenten Lebensweise und Laster. Zu fett und zu satt, um das Wesentliche zu begreifen.
Noch niemals habe ich einen Vertrag gebrochen. Ich bin gewissenhaft. Doch dieser kleine, ehrlose Narr denkt, er könne mir entkommen. Welch niederträchtiger Irrglaube?! Lasst mich Euch eines sagen: Ich bin überall. Ich überwache jeden eurer Schritte. Ich habe die Fäden eurer Leben, in der Hand. Und ich durchtrenne sie, wenn es so weit gekommen ist. Es gibt kein Entkommen und ihr habt das Scheitern zu verantworten, ihr alleine.
Ich setze mich in ein Taxi und folge dem seinigen zum Flughafen. Denkt er, ich würde es nicht sehen? Er steigt aus und blickt nervös umher, bevor er einen großen Koffer aus dem Kofferraum des Taxis hievt. Ich bezahle den Fahrer mit einem freundlichen Lächeln und einem großzügigen Trinkgeld. Dann steige ich aus dem Taxi, schließe meinen Mantel und nehme meine Fährte auf. Entspannten Schrittes folge ich dem kleinen Mann, der hastig seinen Koffer hinter sich herzieht. Ich bin mir meines Sieges sicher, ich habe ihn in der Hand. Aus sicherer Entfernung beobachte ich, wie er seinen Koffer aufgibt und eincheckt. Ich kann erkennen, wie seine Hand zittert, als er seinen Pass und sein Ticket vorlegt. Über seine Schulter blickt er sich um. Doch er kann mich nicht erkennen. Niemand kann das. Ich bin ein Geist. Von seiner Nervosität amüsiert, entlockt es mir sogar ein kleines Lächeln. Er schreitet nun zu den Sicherheitskontrollen. Der Schweiß steht ihm auf der Stirn … Er widert mich an. Nachdem er die Sicherheitskontrollen überwunden hat, schaut er nochmal zum Bereich der Check-In-Schalter. Ich sehe einen Anflug der Erleichterung auf seinem Gesicht, als er nichts Auffälliges bemerkt. Doch wie Falsch: Ich könnte direkt vor dir stehen, du törichter Stümper, und du würdest nicht einen Hauch des Verdachtes haben.
Ich tu‘ es ihm nun gleich, gehe zum Schalter, kaufe mir ein Ticket, lasse das kalte Metall aus meiner Jackentasche unauffällig in einem Mülleimer verschwinden und passiere die Sicherheitskontrollen. Das Messer ist zwar mein Pinsel, aber ich bin auch ohne Werkzeug ein virtuoser Maler, wallende Erregung ist meine Muse.
Ich bin dir so nahe und du bist dir sicherer denn je. Welch gewaltiger Fehler.
Wir sitzen direkt am Gate, Rücken an Rücken, uns trennen keine zwanzig Zentimeter … Auckland, Neuseeland, soso. Schön soll es dort sein. Du wirst allerdings keine Kiwis zu Augen bekommen. Der Fahnenflüchtige steht auf … ich kenne sein Ziel. Auch ich erhebe mich und folge ihm, die Kappe tief ins Gesicht gezogen. Nach wenigen Schritten tritt er aus dem Hauptgang, der alle Gates miteinander verbindet, und kehrt nach einigen weiteren Metern in eine Nische ein. Auch ich passiere die Nische. In der Mitte zwischen Herrentoilette zur linken Seite und Damentoilette zur rechten steht ein Putzwagen vor der gekachelten Mauer. Er wird mir hilfreich sein …
Eilig betrete auch ich die linksseitig gelegene Herrentoilette. Am Waschbecken steht noch ein alter Mann, der sich die Hände wäscht. Ein schneller Blick genügt um festzustellen, dass sich hier keine weitere Menschenseele aufhält … bis auf ihn. Als der Alte die Toilettenräume verlässt, gehe auch ich wieder hinaus. Ich greife mir aus dem Putzkasten das “temporally out of order”-Schild und postiere es vor der Tür der Herrentoilette. Außerdem brauche ich den Wischmobb, oder vielmehr dessen Stiel. Ich öffne erneut die Tür zur Herrentoilette, trete hindurch und zwänge das eine Ende des Holzstückes unter die Klinke, während ich die Gegenseite auf dem Boden verkeile … Jetzt sind wir ungestört.
Ich nehme Kappe und Brille ab, warte geduldig. Da! Ich höre die Klospülung aus einer der Kabinen. Es fühlt sich an, als flöße siedendes Öl durch meine Adern. Dann kommt das Dickerchen endlich heraus. Der Anblick seines Gesichtes ist in Geld nicht aufzuwiegen. Er weiß, wer ich bin, auch wenn er mein Gesicht nicht kennt. Das ist wohl die Intuition, von der die gemeine Bevölkerung so häufig zu sprechen pflegt. Er löst sich aus seiner Schockstarre und schließt sich wieder in der Kabine ein. Ha! Als ob ihn das retten würde!
Sackgasse, mein törichter Freund …
Kapitel 7
Mittlerweile war die Sonne den Wolken gewichen und ein eisiger Wind strömte durch die verschneiten Straßen. Der Schneefall hatte wieder eingesetzt und eine Phalanx großer, samtig anmutender Schneeflocken hüllte die Luft in einen weißen Schleier.
Obwohl sein Weg nicht allzu lang war, hatte Liebig angesichts des Schneesturmes beschlossen, sich heute lieber ein Taxi zu nehmen. Auf den Straßen geht es zwar auch nicht schneller zu, aber immerhin komm‘ ich dann trockenen Fußes an. Nach kurzer Fahrt kam Liebig im Revier an. Treppe, Sicherheitsschleuse, halbherziger Gruß an die Kollegen, Durschreiten der langen Korridore, Betreten des Büros.
„Wenn haben wir denn da mal wieder? Lazarus persönlich … Wenn du dich hier noch einmal blicken lässt, werde ich dich einsperren müssen“, sagte Olson mit monotoner Stimme ohne aufzublicken. Ja, ein Feingeist ist er tatsächlich nicht.
„Referierst du jetzt schon auf biblische Figuren? Einen Hang zu Spiritualität hätte ich dir gar nicht zugetraut“.
„Natürlich, wer außer der Kirche sonst könnte mich noch erretten“, grinste Olson schelmisch.
„Für dich kommt sowieso jede Rettung zu spät. Außerdem hast du nicht einmal ansatzweise so viel Kohle, wie die Kirche es von dir als milde Gabe verlangen würde, um dir Absolution zu erteilen“. Es war beinahe wie in vergangenen Zeiten. Auf der einen Seite wünschte sich Liebig nichts sehnlicher als die alten Zeiten zurück, auf der anderen Seite verdammte er diese.
„Spaß beiseite. Hier geht’s grad wieder rund. Am Flughafen wurde vorhin eine Leiche gefunden. Schlimme Sache. Der Typ wurde ganz schön zugerichtet … Der Gerichtsmediziner hat sich gerade eben gemeldet. Der Kerl wurde erst erdrosselt, vermutlich mit einem Gürtel, und dann, ja dann kommt das Besondere: Der Täter hat das Opfer mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen. Er brauchte Tinte … du verstehst, was ich meine?“.
„Nein, nicht wirklich“.
„Idiot. Es gab wieder eine Botschaft aus Blut. Sie prangerte blutdunkel am Spiegel. Hör zu“:
„Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt“
Olson sprach die Worte, als ob er Shakespeares berühmtes “Sein oder nicht sein“, rezitierte.
Liebig schnürte es die Kehle zu. Was eine kranker Scheiße. Das ist nicht gut …
„Wir wissen noch nicht genau, was dieser Irre uns sagen will. Vermutlich wieder ein Verweis auf eine Ballade … diesmal Goethe. Schau mal hier…“, Olson kramte in einem Chaos aus Papierblättern und Akten. Zum Vorschein brachte er ein unscheinbares Blatt. Auf dem Blatt: Strophen, zwei davon farblich unterlegt.
„Mein Sohn, was birgst du so bang
Dein Gesicht? –
Siehst, Vater, du den Erlkönig
nicht?
Den Erlkönig mit Kron‘ und
Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“
„Die Jungs vom Profiling haben zwei Strophen markiert. Sie sagen, der Typ sieht sich als eine Art Illusion. Für andere Menschen unnahbar, nicht zu greifen. Er