„Ich bin ein stürmischer Gesell‘,
Ich wähle rasch und freie schnell,
Ich bin der Bräut’gam, du die Braut,
Und ich bin der Priester der uns traut.“
Sowas sollte eigentlich nicht nach außen dringen. Im Angesicht der Länge der Botschaft und der erforderlichen Menge an Blut mischte sich noch Übelkeit zu seinem Angstgefühl. Angeekelt las er weiter. Die skurrilen Worte seien Auszug aus einer Ballade. Silvesternacht von Theodor Fontane. Jedoch sei selbst eine Deutung spekulativer Art zum gegenwärtigen Zeitpunkt laut Aussage der Kriminalpolizei noch nicht möglich. Der Mann vergrub das Gesicht in seinen Händen und dachte angestrengt nach. Wenn er das ist, dann sind wohl die ersten fällig. Aber es könnte auch nicht mehr als ein belangloser Zufall sein.
Plötzlich vibrierte sein Handy. Hastig griff er in seine Hosentasche und zog unbeholfen das Mobiltelefon heraus. Es war seine Tochter. Sie lud ihn zu ihrem Geburtstag ein. Ein zartes Lächeln zeichnete sich auf seiner Augenpartie ab, darunter blieb das Gesicht gelähmt. Ein Nebelstreif am Horizont. Wie lange mag’s her sein, dass ich sie das letzte Mal gesehen habe? Zwei Monate? Der schmale Grat zwischen Erde und Himmel ließ sich schon seit Wochen in einer alles erstickenden Schwärze, wie ein böses Omen, in der Ferne blass erkennen. Mit jedem Tag kam er dem Horizont ein Stück näher. Die schwammige Blässe des dunklen Mals wich Tag um Tag gefestigten Konturen. Schien es damals noch weit, weit entfernt, so war es mittlerweile allgegenwärtig. Es war ein reales Szenario geworden. Und jetzt, da er sich auf dem Weg der Genesung befand, lähmte in dieser Gedanke. Einen Gegner fast geschlagen, während sich der andere von hinten heranschleicht und mir die Kehle durchschneidet. Keine tolle Vorstellung. Er hatte sich immer noch nicht entschieden, wie er mit der Situation umgehen soll, wollte aber auch gar nicht daran denken.
Er trank seinen Kaffee aus, erhob sich und blickte umher. Er mochte die Atmosphäre hier. Er versank immer förmlich in dem Stimmengewirr, das jedoch in keiner Weise aufdringlich war. Es war vielmehr wie eine sanfte Hypnose, die seinen Geist aus seinen gottgesetzten Grenzen ausbrechen und in eine neue Sphäre eintauchen ließ. Und in dieser Umgebung dachte er eigentlich nicht an seine Probleme. Er fühlte sich entspannt, vergaß alles um ihn herum. Der Duft frisch gerösteter Kaffeebohnen tat sein Übriges. Immer wenn er den betörenden Geruch wahrnahm, fühlte er Entspannung, als sei er darauf konditioniert. Aber in diesem Moment wurde ein klaffendes Loch in diese Heile-Welt-Fassade geschlagen, das spürte er eindeutig.
Kapitel 3
In seine Gedanken vertieft verließ der Mann das Café. Die Sonnenstrahlen verwandelten die von Schnee und Eis bedeckte Straße vor ihm in ein Meer aus lumineszierenden Eiskristallen. So viel Schnee hatten wir schone lange Zeit nicht mehr. Sein Weg durch die winterlich anmutende Landschaft, vorbei an der sonst so grauen Tristesse der Häuserfronten führte ihn jedoch schnell zu seinem Ziel. Er betrat das mit der spiegelnden Fensterfront versehene Gebäude, das ihm nach dem Öffnen der Sicherheitsschleuse den Zugang in sein Innerstes gewährte. Bedächtig schritt er durch die hellen Fluren. Durch jene Flure, die er so oft durchlief. Wie er diese Zeiten gleichzeitig vermisste und doch verfluchte.
Hier und da senkte er zum Gruß seinen Kopf, bis er schließlich an dem Büro angelangte, dessen Tür auch seinen Namen aufwies: Andreas Liebig. Ohne zu klopfen trat er über die Schwelle und sah in das Gesicht seines Kollegen.
„Du schon wieder?! Dein Kontrollwahn bringt dich noch eher ins Grab als dein Krebs! Gib ihm doch auch eine faire Chance“. Kopfschüttelnd blickte sein Kollege ihm in die Augen.
„Wenn ich nicht penibel darauf achten müsste, dass du keine Fehler begehst, säße ich dir wahrscheinlich schon wieder gegenüber“, konterte Liebig.
„Was sagt der Onkel Doktor?“.
„Ich bin weiter auf dem steilen Weg der Besserung“. Liebig grinste und zwinkerte seinem Partner zu.
Sein Kollege, Nils Olson, war das das stereotype Bild eines Schweden … und bis auf den Krebs, einte sie dasselbe Schicksal. Ihre Tätigkeit in der Mordkommission hatte die Zeit verschlungen. Jaja, die erstaunliche Macht des Gehirns, gewisse Erscheinungen mit Erinnerungen und Gefühlen zu koppeln. Immer, wenn Liebig nach längerer Zeit auf Olson traf, machte er dieselbe Gefühlswanderung durch. Er musste an die schönen Dinge denken, die Feiern in ihrer Stammkneipe, die gemeinsamen Verhaftungen und Ermittlungserfolge, die Freundschaft. Aber dann ging es hinab. Von hundert auf null, vom euphorischsten Hochgefühl in schwarze Leere. Das alles hat mich meine Familie gekostet. Ich verstehe immer noch nicht, wie ich so blind sein konnte. Zeit für andere, ist das wertvollste, was wir schenken können. Und ich habe es nicht kommen sehen, war von falschem beruflichem Ehrgeiz geblendet.
Als seine Frau sich dann von ihm trennte, war es für ihn ein eiskalter Schlag ins Gesicht gewesen. Wie das passieren konnte? Er kannte nun die Antwort und sie brannte jeden Tag lichterloh schmerzend in seiner Seele ... Es war die vereinnahmende, verdammte Arbeit.
Viele Tage, Wochen, Monate vergingen. Liebig hatte sie damals nicht gezählt. Sie waren für ihn bedeutungslos geworden. Jeglicher Kontaktversuch zu seiner Frau scheiterte. Dann kam der Tag, an dem ihm bewusst wurde, dass das gnadenlose Schicksal ein makabres Spiel mit ihm spielt. Es fing damit an, dass er sich körperlich geschwächt fühlte, dann musste er sich häufig übergeben, ständige Kopfschmerzen plagten ihn. Als Liebig eine Woche nach dem Arztbesuch den Anruf über die Ergebnisse seines Bluttests mit dem niederschmetternden Befund erhielt, machte sich ein betäubendes Gefühl in seinem Körper breit.
Wie paralysiert saß er damals tagelang in seiner dunklen Wohnung, gedankenlos wartend auf sein Ende. Er hatte beschlossen seine Familie über seinen gesundheitlichen Zustand nicht aufzuklären. Liebig verließ seine Wohnung nur noch für die Chemo. Obwohl sein Lebenswille den Kampf mit dem Tod schon vor langer Zeit verloren zu haben schien, hatte er sich für die Therapie entschieden. Motor dieser Überlegung war allerdings nicht die Hoffnung auf das Leben, sondern der Schmerz. Er wollte die Selbstgeißelung. Er wollte sich für seine jahrelange Apathie dem gegenüber, was sich direkt vor seinen Augen abspielte, bestrafen.
„Huhu, Andreas“. Olson riss Liebig aus seinen Gedanken.
„Was? Oh ja, tut mir leid“, Liebig wischte sich über die Stirn, „in letzter Zeit bin ich manchmal etwas geistesabwesend“.
„In letzter Zeit?“. Olson stieß einen Luftschwall aus.
„Was ist das für eine Sache? Das mit der Blutbotschaft“, lenkte Liebig das Gespräch auf den makabren Fund.
Olson stockte kurz. „Diese beschissen Käseblätter".
„Ja, die böse Presse. Nein jetzt mal im ernst. Was ist da los?".
„Frag mich Einfacheres. Wir wissen noch nichts Genaues, alles sehr vage. Wir sind aber mittlerweile sicher, dass die Botschaft auf die Ballade Silvesternacht von Fontane verweist. „Aber …“, lachte Olson höhnisch, „selbst die Deutungen der Ballade sind nicht unumstritten. Es geht um ein junges Mädchen, das einer alten Sage folgt. Hiernach offenbart sich einem jeden Mädchen der zukünftige Ehemann, wenn es in der Silvesternacht um Mitternacht den Essenstisch für zwei deckt. Als die Uhr dann zwölf Uhr schlägt, bekommt es das Mädchen allerdings mit der Angst zu tun. Aber da ist es auch schon zu spät und jemand hat sich zu ihr gesellt. An dieser Stelle schließt sich die Strophe an, die der Spinner uns hinterlassen hat. Am Ende ist das Mädchen tot. Der Gast, der ihr zukünftiger Ehemann sein soll, ist nach landläufiger Auffassung der personifizierte Tod. Er holt sich das Mädchen … Was ist mit dir Andi, du bist ja ganz blass geworden? Wirst du auf deine alten Tage noch sensibel?“.
„Nein, nein. Das sind nur die Medikamente“.
Kalter