Gnadenwolf. Alan Lee Hemmswood. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alan Lee Hemmswood
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738089226
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Sturm. Der hochfrequente Ton schoss durch die Winde und bohrte sich tief in den Gehörgang des jungen Mannes, der sich erschrocken aus seiner Trance riss und rückwärts taumelte, auf den sicheren Boden. Seine Lehrerin für Etikette rannte auf ihn zu und schlug ihm mit der flachen Hand hart ins Gesicht.

      Als sie wieder im Internatsgebäude angekommen waren, führte die Lehrerin ihn zu einem Telefon, mittels dessen die ganze Zeitlang eine Verbindung aufrechterhalten worden war. Er führte den Hörer zum Ohr.

      „Ja?“, sprach er schüchtern.

      „Hallo, Junge! Hier ist dein Vater“. Wenn der junge Mann sich auch nur noch schemenhaft an dessen Aussehen erinnern konnte, so war die tiefe Reibeisenstimme doch sehr vertraut. „Junge, deine Mutter ist gestern gestorben, sie hatte einen Autounfall“. Kurz, prägnant, emotionslos.

      Danach: Rauschen. Der junge Mann konnte sich an nicht mehr erinnern. Simultan in dem Moment des zuletzt ausgesprochenen Wortes rissen Seele und Herz einfach so auseinander. Es gab keinen Knall und auch keine Explosion. Es war vielmehr ein leises Reißen, nicht lauter als der Flügelschlag eines Schmetterlings. Die Liebe zu seiner Mutter war zwar eine des Hasses, aber eben auch eine die ein Sohn für seine Mutter empfand gewesen.

      Er weinte keine einzige Träne. Er wollte weinen, doch er konnte nicht. Die schwärzesten Tage seines Lebens folgten. Doch als er das kurze Trauertal durchschritten hatte, fühlte er etwas in sich, was ihm bisher unvertraut war. Eine Kraft, die seine Selbstzweifel und innere Zerrissenheit auf eine merkwürdige Weise zu bekämpfen schien. Er spürte, wie Stück für Stück der Last abfiel, die jeden einzelnen seiner Knochen beugen konnte. Sein Weltbild begann sich in Zähfluss zu entzerren. Es brauchte nicht lange für seine Entscheidung. Der Prozess, der in ihm eingesetzt hatte, war ohnehin nicht mehr aufzuhalten. Er würde nach Deutschland zurückkehren. Aber nicht als derjenige, als der er seine Heimat verlassen hatte. Das schwor er sich …

      Kapitel 1

       Des Nachts vollziehe ich es am liebsten. Umhüllt von der Schwärze der Nacht, geleitet vom Schein der Sterne begebe ich mich auf die Jagd. Die Kälte der sternenklaren Nacht brennt auf meiner Haut, in meinem Gesicht, doch dies verstärkt nur meine Erregung. Mein Atemdunst tanzt wabernd vor mir in der Luft. Gleich einem Raubtier verharre ich regungslos knöcheltief im Schnee stehend hinter einer alten Esche. Sie ist mein Gehilfe. Der Schatten ihrer kahlen Zweige erstreckt sich im Mondschein unheilvoll gen meines –nun, ich nenne ihn- Vertragspartners, wenn auch unsere Leistungen nicht unterschiedlicher sein könnten. Im Wiegen des leichten Windes scheint es, als ob der Schatten der Zweige mir die Richtung zu zeigen vermag. Mit routinierter Gelassenheit beobachte ich sie. Obwohl sie wissen müsste, dass der Zeitpunkt gekommen ist, hat sie nicht die leiseste Ahnung. Ihr unsägliches Leben wird an diesem kalten Wintertag ein befreiendes Ende nehmen. Darauf habe ich sehnsüchtig gewartet: Die Kirchglocken erklingen unheilverkündend und leiten die Geisterstunde ein. Der Moment, auf den ich gewartet habe …

       Lediglich ein einsamer Jogger, der seine letzte Runde durch den Park dreht, steht ihrer Erlösung noch entgegen. Ich blicke dem Läufer hinterher, wie er leichten Schrittes das Sichtfeld verlässt. Nun denn, der Zeitpunkt ist gekommen.

       Ich schreite aus dem Sichtschutz des Baumes heraus und stapfe durch den tiefen Schnee über die Wiese in Richtung meines Ziels. Sie kauert, mir abgewandt, auf einer Parkbank. Selbst das Knarzen des komprimierten, von einer ächzenden Eisdecke überzogenen Schnees lässt sie nicht aufschrecken. Langsamen Schrittes, die Hände tief in meine Manteltaschen vergraben, gehe ich um die Bank herum und sehe ihr erstmals nach einem zäh dahinfließenden Jahr unmittelbar in die Augen. Für gewöhnlich sehe ich in diesem Moment eine dem Tod ins Gesicht starrende Angst, jedoch nicht so in diesem Fall. Man sagt, die Augen seien der Spiegel der Seele. Wenn dies der Wahrheit entspricht, so kann ich in ihren trüben Augen erblicken, dass ihre Seele vor langer Zeit zerborsten ist. Die Chemikalien, die in ihrem Körper wüten, haben die vernunftbegabte Persönlichkeit in ihr schon vor langer Zeit besiegt und in den Abgrund gerissen. Ihr Gesicht ist eingefallen und von der über sie erhabenen Droge zerfressen. Nun ja, ich muss gestehen, dass ihr Anblick meinem Verlangen die Energie entzieht. Ich bin es, der sein Gegenüber in seinem letzten Moment beherrschen will, wenn er ihm den Tod einhaucht. Und dann dieser armselige Anblick: Ein Junkie, Gefangene ihrer selbst und im festen Würgegriff der Droge. Sie ist ihr Herrscher, nicht ich. Sie hat mich immer noch nicht erkannt. Die Nadel steckt noch in ihrem narbenübersäten Arm. Ich bezweifele, dass sie überhaupt noch mehr von dieser Welt wahrnimmt als das, was das Zeug ihrem Geiste vorgaukelt.

       Sei es wie es mag, aber ich bin ein ehrenwerter Mann. Mir ist bewusst, dass der Vertrag nicht gebrochen werden darf. Ich erfülle pflichtbewusst meinen Dienst an der Gesellschaft. Behutsam führe ich die ummantelte Klinge aus der Tasche, befreie sie vom Leder und spüre die fesselnde Kälte und schneidende Schärfe in meinen Handflächen. Die Klinge schimmert im Mondschein. Das Schimmern fährt herab …

       Ich fordere stets nur das ein, was mir als Gegenleistung für die Meinige versprochen wurde.

      Kapitel 2

      Der Mann mittleren Alters saß in einem kleinen Café im belebten Stadtzentrum. Die anderen Gäste konnten erahnen, dass mit dem Mann irgendetwas nicht stimmte ... Die Krankheit war damals aus dem Nichts gekommen. Er hatte einen für nicht möglich gehaltenen Teil seines Körpergewichtes eingebüßt, unmissverständlich erfahren, dass die Krankheit unersättlich ist. Seine zittrigen Finger steuerte seitdem der Tremor, als lenke ein unbarmherziger Marionettenspieler seine Bewegungen mittels unsichtbarer Fäden.

      Er reckte sich etwas nach oben, als die wärmenden Sonnenstrahlen durch die isolierende Fensterscheibe des Cafés auf seinen entkräfteten Körper fielen. Sein Fleisch mochte zwar geschunden sein, doch sein Geist war seit Wochen wieder von Hoffnung erfüllt. Der Arzt hatte ihm mitgeteilt, dass er wohl wieder gesund werden würde, die Chemotherapie habe „angeschlagen“. Die Nachricht hatte ihn zunächst in Ekstase und Sekunden später in tiefe Furcht versetzt. Denn er hatte in seiner Verzweiflung ein Tor geöffnet, das tief, tief in die Schwärze führte. Er hatte einen unaufkündbaren Pakt mit diesem gottlosen Teufel geschlossen …

      Der hagere Mann schob den klassischen Caféhausstuhl zurück und schritt auf die blonde Bedienung zu, die mit einem charmanten Lächeln hinter dem Tresen wartete.

      „Darf es noch was sein?". Ihr Gesicht schien in Stein gemeißelt, wie das einer Stewardess. Doch der Mann wusste, dass es keinesfalls aufgesetzt war.

      „Clara, sei doch so lieb und gib mir mal die aktuelle Tageszeitung".

      Die Bedienung griff, ihre Lippen zogen sich noch eine Nuance weiter auseinander, auf Taillenhöhe neben sich und reichte dem Mann die Zeitung.

      „Dank dir, Clara". Der Mann ging zurück zu seinem Platz und ließ sich mit einem Seufzer nieder. Er breitete die Zeitung zwischen seinen zittrigen Händen aus. Und dann stellte er die Atmung unwillkürlich ein, seine Augen starrten schockiert auf die Titelseite vor ihm.

      “Grausamer Fund im Park“.

      

      Unter der Überschrift nahm ein abgebildetes Foto die gesamte Breite der Zeitung ein. Der Mann zog das Bild bis auf wenige Zentimeter vor seine Augen heran. Vor einer Parkbank lag im Schnee ein weißes Laken, darunter zeichneten sich die Konturen eines Menschen ab. Im Kreis um das verhüllte Opfer herum waren Blutspritzer zu erkennen, die sich wie feine Safranfäden im jungfräulichen Schnee abgezeichnet hatten. Neben dem vermeintlichen Opfer lag ein weiteres Laken. Hierunter zeichneten sich allerdings keine Formen ab.

      Verdammt, das kann doch nicht wahr sein. Ein elektrisierender Strom durchfuhr seinen Körper, seine Finger und Zehen begannen erst zu kitzeln, dann zu schmerzen. Sein Geist malte dunkle Bilder, stellte sich vor, bald würde sein Name dort zu lesen sein. Wie