Eolanee. Michael H. Schenk. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael H. Schenk
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847688563
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nicht zur Ruhe begeben.

      Auch auf dem Versammlungsplatz inmitten der Kegelbäume war es ruhiger geworden. Es war spät in der Nacht, eher früher Morgen und auch in Ayanteal musste geerntet werden. Trotz ihrer Neugier hatten sich die meisten Bewohner zur Nachtruhe begeben. Einige Lampen mit Glühkäfern spendeten ihr sanftes Licht, aber Bergos war diese Wege so oft gegangen, dass er sie auch in völliger Dunkelheit gefunden hätte.

      Sein Ziel war ein Kegelbaum im zweiten Ring. Hier brannte noch Licht in einem der Häuser. Bergos berührte eine Fangwurzel, strich sanft mit dem Finger an ihr entlang und sie formte die Sitzschlinge und trug ihn nach oben. In der dritten Ebene spürte eine Frau die Schwingungen und trat auf den Rundgang vor dem Haus. Neredia fühlte sich noch schwach und ihr Kopf schmerzte noch immer von dem gewaltigen Hieb, den sie erhalten hatte. Aber sie lebte und das war weit mehr, als es den meisten Menschen von Ayan vergönnt gewesen war.

      Sie stützte sich auf das zierliche Geländer und lächelte, als sie Bergos erkannte. So wie Bergos Ma´ara´than der Führer der Auraträger war, so war Neredia Ma´ededat´than die Führerin der Baumhüterinnen.

      Als Kinder waren sie im selben Dorf aufgewachsen und hatten sich angefreundet. Dann, als man bei ihnen die möglichen Fähigkeiten der Aura und des Baumhütens erkannt hatte, waren sie getrennt worden. Sie erfuhren intensive Schulungen, die ihre Anlagen förderten und sie auf ihre verantwortungsvollen Aufgaben vorbereiteten. So blieb nur wenig Zeit für eine unbeschwerte Kindheit und noch weniger Raum für persönliche Beziehungen. Kein persönliches Empfinden sollte die Heranwachsenden von der Konzentration auf ihre Unterweisung ablenken. So wurden Bergos und Neredia jene Gefühle vorenthalten, die Mann und Frau zueinander führten und zu einem glücklichen Paar werden ließen. Das Wohl der Gemeinschaft stand über dem persönlichen Glück. Es war ein Opfer, welches den Kindern auferlegt wurde und doch war es für das Überleben der Enoderi erforderlich. Als Bergos und Neredia sich nach vielen Jahren erneut begegneten, da hatte sich ihre einstige Freundschaft verändert. Ihre gegenseitige Zuneigung ging noch tiefer als zuvor und sie brauchten nicht viele Worte, um einander zu verstehen. Die körperliche Liebe blieb ihnen versagt, um ihre Fähigkeiten nicht zu gefährden, doch ihre geistige Bindung war stärker, als je zuvor.

      Der hölzerne Rundgang knarrte leise, als Bergos sich auf ihn schwang und die Fangwurzel entließ. Für einen kurzen Moment berührten sich ihre Hände, mehr an Vertrautheit war ihnen nicht gestattet. Vor Jahren mochten sie sich nach mehr als einer flüchtigen Berührung gesehnt haben, aber sie hätten ihre Kräfte niemals für ein kurzes Vergnügen aufs Spiel gesetzt. Nun war für sie beide die Zeit des körperlichen Verlangens vorbei, denn sie hatten die Phase des Begehrens überwunden.

      „Wie geht es deinem Kopf?“ Bergos betrachtete den Verband mit kritischen Augen. „Die Binde wurde erneuert. Was sagen die Heilkundigen?“

      Neredia lächelte erneut. „Sie sind zufrieden und meinen, die Beule werde sich bald zurückbilden. Aber sie müssen meine Kopfschmerzen auch nicht aushalten.“

      „Es ist kein Wunder, dass du Schmerzen hast. Nach so einem Schlag solltest du ruhen und im Halbdunkel liegen, denn das Licht schmerzt deinen Augen.“

      „Dieser Schmerz ist nur körperlich und wird vergehen.“

      „Ich verstehe.“ Er deutete in das Dunkel der Nacht und über den schwach beleuchteten Rundgang. „Lass uns ein paar Schritte gehen. Wir haben lange beraten und dabei zu viel gesessen. Etwas Bewegung tut mir gut.“

      Neredia nickte. „Wenn du es wünschst.“

      Sie strich mit der Hand über das Geländer des Rundgangs und der Kegelbaum spürte ihren Wunsch. Er schickte seine Säfte und der Gang verbreiterte sich und wurde fester. Zweige verschoben sich und ließen mehr Sternenlicht einfallen, so dass der Weg ausreichend beleuchtet lag.

      Bergos nahm dies kaum wahr. Es gehörte zu den Fähigkeiten der Baumhüterinnen und Neredia war die Beste von ihnen allen. Schweigend gingen sie nebeneinander, spürten ihre Nähe. Die Enoderi wusste, dass Bergos in diesen Minuten etwas Ruhe brauchte. Er musste seine Gedanken ordnen und die Anspannung verlieren, die ihn bei jeder Ratsversammlung der Auraträger begleitete.

      „Es ist ein gemeinsamer Schmerz“, sagte er unvermittelt. Er verharrte und Neredia tat dies ebenso und erwiderte seinen Blick. Bergos Augen waren voller Trauer. „Du erleidest Schmerz, weil du den Menschen in Ayan mit deiner Gabe nicht helfen konntest. Keiner von ihnen erreichte den Schutz eines Baums und auch jenen, die doch in ihre Reichweite gelangten, konntest du nicht helfen, denn du warst durch den Schlag betäubt.“ Sie schwieg und der Auraträger seufzte schwer. „Ich hingegen erleide Schmerz, weil wir Auraträger zu spät kamen und Ayan nicht schützen konnten.“

      „Wir haben beide keine Schuld.“ Ihre Stimme war sanft und verständnisvoll.

      Bergos legte eine Hand auf das Geländer und sah zwischen den Zweigen zum nächtlichen Sternenhimmel empor. „Das weiß ich. Aber das macht es nicht leichter.“

      „Nein, das tut es nicht.“ Ihre Hand legte sich über die seine und für einen Moment ließ er die Berührung zu, bevor er sie ihr sanft, aber bestimmt, entzog.

      Bergos wich ihrem Blick aus. „Es gab eine Prophezeiung. Und es gab einen Entschluss im Rat.“

      „Welches war die Weissagung?“

      Er nannte sie ihr, Wort für Wort. Neredia schwieg und nun war es Bergos, der ihr Zeit zum Nachdenken gab. Aus einem Eingang trat eine junge Frau und sah sich um. Sie hatte wohl die leisen Schritte und Stimmen vernommen. Als sie die beiden erkannte, verneigte sie sich kurz und zog sich rasch wieder zurück.

      „Es droht Gefahr von dem Volk mit der kupferfarbenen Haut und wir müssen uns darauf vorbereiten“, sagte Neredia schließlich. „Aber die Prophezeiung von einer Aura die Leben nimmt, bereitet mir Sorge.“

      „Die Leben nimmt und Leben gewährt“, ergänzte Bergos. „Auch der Rat hat darüber gerätselt und ist keineswegs einig, was das zu bedeuten hat.“

      Sie sah ihn forschend an. „Aber du, Bergos Ma´ara´than, du hast eine Vorstellung davon, was es zu bedeuten hat, nicht wahr?“

      „Nur eine Vermutung. Eine flüchtige Ahnung, nicht mehr“, schränkte er ein. Er erwiderte ihren Blick. „Ich glaube, die Prophezeiung hängt mit dem Mädchen zusammen. Mit Eolanee.“

      Neredias Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. „Was vermutest du?“

      „Ich vermute, dass Eolanee über die Kräfte einer Baumhüterin verfügt und zugleich über die Kräfte eines Auraträgers.“

      Ihr Gesicht verriet ein wenig Überraschung, aber keinen Widerspruch. „Es wäre möglich. So unwahrscheinlich es auch klingt, es wäre möglich.“

      Bergos schilderte ihr zögernd, was sich zugetragen hatte, als er und die anderen Auraträger Ayan erreichten. Was ihm aufgefallen war, als er Eolanee fand. Er versuchte, nur die Fakten zu schildern und keine Bedeutung hineinzulegen, die er sich vielleicht wünschen mochte. Die Baumhüterin hörte aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen und als er endete, schwiegen sie beide für eine lange Zeit.

      „Es wäre möglich“, sagte Neredia erneut. „Eine Frau mit der Kraft der Aura hat es niemals zuvor gegeben. So wie es niemals einen Mann gab, der über die Fähigkeit einer Baumhüterin verfügt. Wenn es wahr wäre, so könnte Eolanee zu einer großen Macht heranwachsen.“

      „Davor haben einige der anderen Angst“, räumte Bergos ein. „Aber noch ist Eolanee ein kleines Mädchen und sich ihrer Fähigkeiten nicht bewusst.“

      „Wenn sie denn wirklich vorhanden sind.“

      „Für mich gibt es keinen Zweifel.“

      „Ja, ich kenne dich, Bergos.“ Erneut sah sie ihn forschend an. „Was erwartest du von mir? Und, was viel wichtiger ist, was erwarten du oder der Rat von Eolanee?“

      „Ich glaube, dass dieses Kind über beide Fähigkeiten verfügt. Aber sie ist sich dessen nicht bewusst und die Kraft ist noch nicht ausgeprägt. Wir hätten die Macht, dafür zu sorgen, dass