7 - Pläne für eine neue Welt
Die Terrasse der Villa liegt ein wenig erhöht, wie ein Balkon von schneeweißer Balustrade in geschwungenem Stein gerahmt. Über ihr durchsetzt sich der Geruch frischgemähten Grases bereits mit erstem Grillrauch unter orange-gelbem Sonnendach, beiderseits nur noch grenzenloser Himmel darüber, angenehm-provisorisches Zeltlager-Ambiente darunter, leider schweißtreibend heiß trotz Ventilator. Daher haben alle bereits ihre Jacketts ausgezogen und Ärmel hochgekrempelt, als stände die große Verbrüderung bevor.
Auf der anderen Seite unseres hitzegeplagten Tisches unterhält sich Stritter gerade angeregt mit einem Herrn Anfang 50, der sich mir als Dr. Günther Musmann, binnenmarktpolitischer Sprecher des EU-Parlaments, vorgestellt hat. Ebenfalls Christliche Partei. Er macht einen freundlich-zurückhaltenden, fast schon etwas sanften Eindruck. Halbglatze und Vollbart unterstreichen die grundsätzliche Eierform seines Schädels, Augenbrauen permanent betroffen hochgezogen kräuseln seine Stirn in fast klingonischen Falten - bis hin zu jener polierten Stelle jedenfalls, an der sich die Sonne noch schweißbeperlt spiegelt. Gemeinsam untersuchen sie einen Halter für Grillsaucen und versuchen, aus exotischen Namen Rückschlüsse über ungefähre Geschmacksrichtungen abzuleiten.
Daneben sitzt ein äußerst seriös wirkender Herr, der sich mit Ingo über Sport austauscht und zu kurzen, explosiven Zurschaustellungen von wechselweise Empörung und Häme neigt: Heinrich Krampfhorst, MdB für die Frühere Arbeiterpartei, die Liste der Sozialdesolaten, aus dem Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Hager und drahtig, kurz-graues Haar, schmales Gesicht mit hörnerner Brille: Irgendwie wirkt er ausgezehrt und steht offenbar stark unter Strom. Musmann und Krampfhorst tragen jeweils die Reste grauer Anzüge mit unterschiedlichen Modeverbrechen als Krawatten.
Ein wenig abgeschlagen im Einzelsessel macht sich Amalia Metzger, MdB für die Umweltpartei aus dem Ausschuss für Werbung, Verkehr und digitale Infrastruktur (mit Anfang 40 die jüngste außer Ingo) energisch über eine Zusammenstellung unterschiedlichster Salate her. Sie trägt eine knallrote Bluse über weißem Hemd, am Hals baumelt stilisiert ein Bronzedelphin, Gesichtszüge weitgehend in pampig-herabgezogenen Mundwinkeln erstarrt. Keinerlei Makeup, der Topfschnitt ihrer blonden Haare lässt auf eine eindeutige Präferenz für innere Werte schließen. Momentan schwitzt sie lieber still vor sich hin.
Meine Wenigkeit gibt sich derweil damit beschäftigt, überbackenen Schafskäse auf Baguette zu streichen und mit gut eingedrückten Oliven zu garnieren. Dabei lausche ich dem Summen der Bienen und vor allem erneut dem Lied der Vögel, sogar eine Gartengrasmücke schon entdeckt. Ein bisschen mache ich mir zwar Sorgen, dass die anderen mich für arg beschränkt befinden, weil ich so lange autistisch mit diesem Baguette herumfuhrwerke, doch erstmal halte ich den Kopf noch lieber eingezogen. Sobald ich aufsehe, wird mich zumindest die Metzger in ein Gespräch verwickeln, diesen Trick kenne ich bereits.
Vom Tennisplatz kommen nun die beiden letzten Mitglieder unserer Gruppe geschlendert, ein äußerst ungleiches Paar. Er Ende 40, sportlich, sonnengebräunt, idealer Schwiegersohn. Noch nicht einmal ihr Match hat seine perfekt sitzenden Haare in Unordnung bringen können. Die Frau daneben ist mindestens zehn Jahre jünger und so füllig, dass sie wohl ihre eigenen Tennissachen mitbringen musste. Sie lacht schallend und stößt ihrem Partner den Ellbogen in die Rippen, dass dieser einen Meter zur Seite taumelt, dabei wirft sie ihre ungezähmt schwarze Lockenpracht zurück. Es sieht aus, als trüge sie ein kleines Schaf auf dem Kopf und den gutgelaunten Charme einer Dampfwalze vor sich her. Der Mann antwortet lachend etwas, das ich aufgrund unerwartet dicken US-Akzents nicht verstehe.
Ingo stellt beide vor als Mister Richard Schuester, Vertreter von XSolutions, und Frau Ludmilla Wilks vom EU-Parlament, Mitglied der Früheren Sozialistenpartei und des Handelsausschusses. Tatsächlich, er stellt den Mann zuerst vor, für gute Kinderstube wohl noch zu jung. Frau Wilks jedoch winkt nur beiläufig in die Runde und schreitet sofort zum Servierwagen. Schließlich ächzt die Sitzecke, als sie sich neben Schuester fallenlässt: »Komm, Richard, darauf stoßen wir mit einem Ouzo auf Eis an. Hier, für Sie!«
Frühere Sozialistenpartei? Hier? Derart „etabliert“ sind die doch noch gar nicht? Werden sie wohl auch nie, solange sie sich in Einwanderungs- und Bildungspolitik nicht auf eine gemeinsame Position einigen können. Ich weiß noch, wie ich bei einer Konferenz zum ersten Mal einem MdB von der Früheren Sozialistenpartei begegnete. Erst kam der Typ eine Viertelstunde zu spät und bei seinem Eintreten stöhnten alle genervt auf: Krasser Fall von Mobbing, dacht ich viszeral. Bis klar war, dass er sich alle fünf Minuten zu Wort meldete, um einen recht pompösen Grundsatzmonolog zu halten. Schnell wurde klar, dass er dabei weder das Thema unserer Sitzung noch die zugehörige Rechtslage kannte. Einer von denen halt, denen Prinzipielles wichtiger ist als schnöde Machbarkeit. Habe die Partei daraufhin als vermutlich harmlos und relativ wirr abgespeichert und fortan genau deswegen gewählt. Ob das auf diese Wilks auch zutrifft?
Erstaunlicher Weise ist sie bei weitem nicht so durchschwitzt, wie dies bei ihrem Körperumfang zu erwarten wär, stürzt den Ouzo in Eins hinab. Schuester hingegen blickt sein Glas an, als hätte er normaler Weise nichts mit Alkohol zu schaffen, da er Regeln für gesundes Managerleben bis aufs Komma befolgt. Ingo hilft ihm jedoch aus seiner Lage, indem er zum Tisch herüberkommt und eine kleine Ansprache beginnt: »Jetzt, wo wir alle beisammen sind, stelle ich euch mal das Rahmenprogramm für dieses Wochenende vor. Natürlich komplett auf freiwilliger Basis, seht es mehr als eine Art Wohlfühlprogramm.« Er streicht sich den Seitenscheitel zurecht und blickt einen Moment spöttisch-abwartend in die Runde. Jetzt hier auf der Terrasse ist er zu anhaltendem Geduze übergegangen, auch wenn ansonsten niemand mitzieht: vertrauensbildende Maßnahme vermutlich.
»Zunächst einmal haben sich einige wahrscheinlich schon gefragt, warum ich hier am Grill stehe. Der Trick ist, dass wir dem gesamten Personal übers Wochenende freigegeben haben. Wir haben die Villa also komplett für uns: sturmfreie Bude, Leute!« - Doktor Musmann lächelt schwach. Frau Metzger sieht Ingo an, als wäre er etwas, das sie soeben unter ihrer Schuhsohle entdeckt hat.
Leicht verunsichert fährt unser Gastgeber fort: »Deshalb grillen wir jetzt erst einmal, damit ihr euch stärken könnt. Aber keine Sorge: Später am Abend kommt noch ein erstklassiger Catering-Service. Schlagt euch den Bauch also nicht zu voll, nicht wahr?« Kurz sieht es aus, als wolle er uns wieder Zustimmung heischend angrinsen, anscheinend aber hat er aus seiner letzten Erfahrung gelernt. »Das Abendessen ist für 20.00 Uhr geplant. Ab 21.00 Uhr beginnt dann die Weinprobe, wir haben ein paar ganz exquisite Tröpfchen für euch ausgewählt. Morgen um 9.00 kommt wieder der Catering-Service für das Frühstück und ab 11.00 lassen wir ein paar hochspezialisierte Masseurinnen für euch antanzen. Wenn ihr Interesse habt, tragt euch auf der Liste ein, die ich gleich rumgebe, und wählt eure bevorzugte Behandlung. Keine Sorge: Das ist natürlich alles 100%ig seriös. Wir sind hier ja schließlich nicht bei Volkswagen, nicht wahr?« Wie gefürchtet lässt er sich nun doch zu schallend-irrlichterndem Gelächter hinreißen. Stritter fletscht die Zähne und grinst zurück, Krampfhorst jedoch sieht ein wenig enttäuscht aus.
»Tja, das warʼs dann eigentlich schon. Um 13.00 Uhr gibt es noch Mittag, damit ihr euch für die Heimfahrt stärken könnt. Wie ihr seht, wird dieses Wochenende das, was wir daraus machen. Also: Nutzt die Einrichtungen hier auf dem Grundstück, die Sauna im Haus und seht zu, dass ihr eine schöne Zeit habt!«
Allgemein setzt zaghaft-fröhlich zustimmendes Gemurmel ein, aber Ingo ist leider noch nicht fertig. Etwas entschuldigend hebt er die Arme und steht so, bis erneut Ruhe einkehrt: »Aber, Leute, ihr wisst ja, wie das ist. Wenn eine neue Gruppe zusammenkommt, braucht man immer ein Kennenlernspiel, um das Eis zu brechen.« Durch meinen Kopf zucken sofort düstere Erfahrungen zahlreicher