Die Banalen und die Bösen. Jannis Oberdieck. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jannis Oberdieck
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742722669
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verscheucht eine verirrte Biene von den Grillsaucen und linst dann listig rundum: »In eurem Alltag müsst ihr wahrscheinlich schon genug Probleme lösen. Deshalb soll es heute hier um Kreativität gehen (in Krampfhorsts Miene steht offener Ekel). Stellt euch folgendes vor: Wissenschaftlern ist es tatsächlich gelungen, ein Tor in eine andere Welt zu öffnen.« Ingo senkt die Stimme. Wäre es bereits dunkel, würde er jetzt wohl eine Taschenlampe unter sein Gesichtchen halten. »Die Atmosphäre dort ist zwar nicht giftig, aber auch nicht atembar. Die Schwerkraft ist wie bei uns. Automatisierte Drohnen wurden zur Erkundung hinübergeschickt und brachten Aufnahmen von äußerst bizarren Pflanzen und Tieren mit sich, keines davon kulturschaffend. In zwanzig Kilometern Entfernung wurden jedoch die Ruinen einer Stadt entdeckt. Das technische Niveau scheint zumindest vergleichbar mit unserem: Eure Aufgabe ist es nun, als Team eine Expedition zu organisieren.«

      Meiner Erfahrung nach ist das Grundprinzip solcher Planspiele immer gleich: Je verschrobener und abwegiger die Spielidee, desto garantierter angeblich die Kreativität. Bin jedoch noch nie über ein Planspiel gestolpert, das derart unbestimmt war: Was für Ressourcen? Welche Zielvorgaben? Warum können wir uns nicht einfach in Frieden unterhalten? Oder ist dies ein Test, bei dem Ingo und Schuester eine Vorauswahl der Kandidaten treffen, mit denen man sich später unter vier Augen zusammensetzt? Dann ist es vermutlich das Beste, möglichst wenig Initiative und eigenständiges Denken zu zeigen. Eigenartiges Sujet auf jeden Fall. Ja, tatsächlich: Zu diesem Zeitpunkt halte ich das alles noch für frei erfunden.

      Offenbar teilt auch Frau Wilks einige meiner Bedenken: »Ach, kommen Sie schon, Ingo! Sie müssen uns doch ein bisschen mehr Informationen geben, damit wir arbeiten können.« - Gleichmütig zuckt unser Gastgeber mit seinen Achseln und blinzelt in die mittlerweile keck von rechts linsende Sonne. »Im Grunde habt ihr bereits alle verfügbaren Infos. Aber ihr könnt gern noch gezielt Fragen stellen, während ich mich um das Grillfleisch kümmere.« Sprichtʼs und geht hinüber, während wir Teilnehmer dieses Wellness-Wochenendes uns ratlos anblicken. Träge Gelassenheit aufgrund drückenden Wetters und der Wunsch, sich vor anderen in bestmögliches Licht zu rücken, ringen sichtlich miteinander. Schließlich unternimmt der für Selbstdarstellungen offenbar empfängliche Doktor Musmann einen noch etwas schwunglosen Anlauf: »Nun ja. Mir scheint, wir bräuchten Wissenschaftler... verschiedenste Wissenschaftler... und Soldaten als Geleitschutz. Vielleicht das European Gendarmerie Force?« Unsicher blickt er in die Runde, ein Girlitz tschilpt Zustimmung, Krampfhorst beschränkt sich undeutbar auf abgehacktes Nicken.

      »Bringt nichts«, breche ich schließlich hervor, selbst überrascht von soviel Initiative ausgerechnet meinerseits: wahrscheinlich die Nervosität, vielleicht auch durch die letzte Woche wieder zu sehr an heikle Ansagen gewöhnt. »Die Atmosphäre dort ist nicht atembar. Und wir wissen nicht, was für Mikroorganismen es gibt. Also müssten alle Beteiligten Schutzanzüge mit Sauerstoffflaschen tragen. Bei dieser Schwerkraft wiegt so etwas aber fast dreißig Kilo, und dabei reicht der Sauerstoff nur für vierzig Minuten.«

      Die Runde blinzelt mich träge, ja geradezu verschlafen aus dem Halbschatten heraus an. Lediglich Stritter pfeift beeindruckt, während er sich mit einer Serviette kühlend Luft zufächert: »Sie kennen sich ja aus?«. Natürlich folgen solcher Selbstexponierung in unbekanntem Kreis trotz all dieser Jahre noch immer stetig Schamaufwallungen nach, die niedergerungen werden wollen. »War früher bei der Freiwilligen Feuerwehr«, spiele ich meinen Beitrag ein wenig herunter, Fachwissen ist stets befremdlich hier im Tal der Ahnungslosen. Dennoch, bis jetzt ernte ich anerkennende Blicke. Trotzdem: Jetzt besser zurücknehmen, andere vorpreschen lassen und sorgfältig anschauen, mit wem du es zu tun hast!

      Rundum setzt man sich nun aufrechter, Reaktivierung routinierter Konferenzhaltungen: Keinerlei Aussagekraft bezüglich tatsächlicher Aufmerksamkeit, selektiv abzuschalten, ist schließlich einer der wichtigsten Schlüssel zum Erfolg. Jedoch: Voll zupackender Energie übernimmt Frau Wilks das Ruder. »Dann brauchen wir also einen Transportwagen für zusätzliche Sauerstoffflaschen.« Vor meinem geistigen Auge schwelen Bilder, ein Trupp Gestalten in schweren Schutzanzügen stapft durch unwirtlich-fremde Landschaft unter sengender Sonne, Handkarren mit Sauerstoffflaschen hinter sich herziehend, fern so fern das Heimatland. Verblüffend, wie leicht sich so etwas planen lässt, wenn man selbst im sicheren Hafen sitzt. »Schwierig«, steuert Doktor Musmann bei. »So schwere Wagen würden befahrbares Gelände benötigen. Oder Raupenketten.« Funktioniert doch: Ein and´rer wird´s schon sagen, erster Elan versiegt erneut in weichgekochter Ratlosigkeit.

      Nun erbarmt sich jedoch auch die Metzger: »Auf jeden Fall brauchen wir für diese Expedition eine feste Frauenquote. Das Kommando sollte unbedingt ebenfalls eine Frau haben. Wenn das dann in Fernsehen und Zeitungen zu sehen ist, werden die jungen Mädchen verstehen, dass das Erforschen von Unbekanntem absolut auch Frauensache sein kann. Gut wäre jemand, die energisch und weiblich zugleich ist.« - Einen Moment lang herrscht verblüfftes Schweigen. Dieser zeitgemäß vielleicht wichtigste Punkt musste also wieder einmal eigens von einer Frau angesprochen werden, Männer sind ja so wenig lernfähig. Nur Krampfhorst hat derweil begonnen, den Kronkorken seiner Bierflasche in Richtung eines kleinen Tors aus Salz- und Pfefferstreuer zu schnippen. Doktor Musmann putzt energisch seine randlos-dezente Brille zur Vorbereitung verschärfter Konzentration und murmelt leicht schuldbewusst etwas, das nach »gewiss, gewiss« klingt. Stritter bleibt noch immer auffällig still, vermutlich hat die Bibel zum Thema „Reisen“ wenig zu sagen und Stellen zur Rolle der Frau könnten derzeit ungeeignet sein. Als man in meine Richtung blickt, fokussiere ich schnell auf einen Dunklen Zierbock, der mutig die Balustrade erklimmt, um dort unaufdringlich gemusterte Flügeldecken zu putzen: Bist du nicht ein bisschen spät dran dies Jahr, mein Kleiner?

      »Das ist es!«, bringt uns die Wilks vehement begeistert zurück zum Thema: »Wir brauchen so etwas wie dieses Raupenfahrzeug bei der Marslandung! Ingo, wie hoch ist unser Budget?« Unser Gastgeber hat sich inzwischen eine Grillschürze umgebunden, Kiss the cook, vor ihm färben sich erste glühende Kohlen bereits vor Zusatzhitze weiß. Lächelnd breitet er auf diesen Zuruf hin seine Arme aus wie ein Varietékünstler: »The sky is the limit.« Und genau das ist wohl das Zauberwort. Sogar Krampfhorst beteiligt sich nun enthusiastisch, man kann über so viel Planungswillen nur staunen. Noch als Ingo erste Grillware zu Tische trägt, holt die Wilks Schreibzeug aus ihrer fast koffergroßen Handtasche und Doktor Musmann beginnt, Skizzen zu entwerfen. Man einigt sich nach und nach auf einen Treck von drei bewaffneten Raupenfahrzeugen, einige Erkundungsdrohnen dazu, welche aus den Fahrzeugen heraus steuerbar sein sollen. Die marinierten Filetspieße mit Paprika hingegen sind wunderbar rauchig vom Rost gekommen, Frau Metzger bleibt jedoch bei blassem Huhn. Stritter weiß mittlerweile Grillsaucen zu empfehlen, lediglich Schuester hält sich beobachtend zurück. Kaum drei Sätze bislang, durchaus auffallend.

      »Gut, damit kommen wir bis in die Stadt«, fasst Doktor Musmann letztlich zusammen und tunkt sein Würstchen mutig in eine Sauce namens Malaysia. »Dort lassen wir die Drohnen ausschwärmen. Wonach aber suchen wir?« Wieder blickt er fragend in die Runde, während seine Zähne das Fleisch zerkauen.

      Die Metzger: »Also, ich würde wissen wollen, warum diese Zivilisation offenbar fast restlos untergegangen ist. Ich meine, vielleicht gibt es immer noch irgendeine Gefahr, von der wir so schnell wie möglich wissen sollten? - Oder war das vielleicht eine Ökokatastrophe?«, schiebt sie parteibewusst rasch hinterher. Für einen kurzen Moment blitzt jedoch auf, dass sie privat vielleicht durchaus bewandert ist im Bereich von Science Fiction/Fantasy, dunkle Geheimnisse und dergleichen. Krampfhorst stimmt zu, Ingo hat seine Kronkorken inzwischen eingesammelt: »Wir müssten so etwas wie ein Archiv oder eine Bibliothek suchen.« Das frische Bier in seiner Hand schwitzt vor Temperaturunterschied, doch noch mehr Entspannung kann ich wirklich nicht gebrauchen. Allmählich wäre es vielmehr an der Zeit, mich wieder einzuklinken, man gerät so schnell in Vergessenheit. Doch Doktor Musmann hat den Faden bereits aufgenommen: »Es müsste auf jeden Fall ein digitales Archiv sein, falls es so etwas hier gibt. Wir kennen die Sprache schließlich nicht und haben außerhalb unserer Fahrzeuge nur 40 Minuten. Die sinnvollste Ausbeute unserer Expedition wäre also, wenn wir so etwas wie... Speichermedien mitnehmen könnten, die sich hinterher in Ruhe auswerten lassen.«

      »Auf keinen Fall«, meine Chance ist gekommen: »Wir dürfen nichts von da mit herüberbringen. Schließlich haben wir überhaupt keine Ahnung, was für Mikroorganismen