An diesem Tag hatte sie Till auch auf dem Schulhof nicht gesehen. Allerdings hatte Till sie entdeckt und hatte sofort ihren traurigen Blick registriert. Daher hatte er sich sofort wieder zurückgezogen.
Sie hatte seine Nachricht also erhalten. Es tat ihm weh, sie so zu sehen. Sie bedeutete ihm so unendlich viel, aber das konnte er ihr auf keinen Fall sagen. Sie würde es nicht verstehen, dass er aus einem solchen Grund ihre Freundschaft zerstörte. Er verstand es ja selbst kaum, aber es schien ihm die beste Lösung zu sein. Er wollte wirklich nur, dass sie glücklich war. Und das konnte sie nicht, wenn sie wüsste, was er wirklich für sie empfand. Also war es das Beste, vorerst getrennte Wege zu gehen.
Als er an diesem Nachmittag nach Hause kam, lag ein Umschlag auf der Kommode im Flur. Sarah hatte seine Nachricht also tatsächlich nicht nur erhalten, sondern hatte entsprechend darauf reagiert.
Er war gespannt, was ihn in dem Umschlag erwartete, der sorgfältig zugeklebt war. So war sie schon immer gewesen, stets ordentlich. Mit einem Lächeln dachte er an die vergangenen Tage, als sie noch kleine Kinder gewesen waren. Alles hatte sie nach Farbe oder Größe sortiert, hatte immer alles gut verpackt und hatte meist ein aufgeräumtes Kinderzimmer, mit welchem ihre Mutter ihr nur selten zur Hand ging.
Er öffnete gespannt den Umschlag und zog einen kleinen Zettel heraus. In sorgfältiger Schrift standen nur wenige Worte darauf geschrieben: »Ich wünsch‘ dir auch alles Gute. Sarah.« Er atmete tief durch. Einerseits war er traurig, andererseits aber auch ein wenig erleichtert.
Er hatte schon befürchtet, sie könnte sauer oder wütend auf ihn sein. Könnte ihm Fragen nach dem Warum stellen, auf die er keine korrekte und faire Antwort wusste. Zu gerne hätte er gewusst, was wirklich in ihrem Kopf vorging, aber nun konnte er sie nicht mehr danach fragen.
Selbst wenn er es gewusst hätte, wäre es ihm nicht anders gegangen. Er war sich sicher, dass er bald erkennen würde, dass er tatsächlich das Richtige getan hatte. Er sollte sich nun auf seine Beziehung mit Katja konzentrieren. Er musste Sarah loslassen, auch wenn das bedeutete, dass er auch ihre Freundschaft losließ, wenn er das nicht sogar bereits getan hatte.
5. Kapitel
Auch Sarah musste sich wohl oder übel an das Gefühl gewöhnen, keinen besten Freund mehr zu haben und Till nicht mehr zu sehen. Es war ihr unendlich schwer gefallen, nicht an ihn zu denken, selbst wenn Steffen in der Nähe war.
»Woran denkst du denn gerade?« Normalerweise stellten die weiblichen Lebewesen diese Frage, aber in diesem Fall war es umgekehrt. Sarah hatte jedes Mal den Gedanken an Till schnellstmöglich wieder verdrängt und ihren Freund beruhigt, indem sie ihn glauben ließ, sie sei müde oder hätte Kopfschmerzen. Steffen hatte bislang nichts von Tills Existenz gewusst. Sie waren einander weder vorgestellt worden, noch hatte Sarah ihm jemals etwas von ihrem – mittlerweile ehemals – besten Freund erzählt.
Steffen hoffte, dass Sarah nicht an einen anderen Mann dachte. Aber genau das tat sie, allerdings nicht ganz auf die Art und Weise, wie Steffen vermutete.
Sarah trauerte. Sie weinte um ihren verlorenen Freund, um die gemeinsamen Erinnerungen und um die vielen schönen Dinge, die sie beide noch hätten gemeinsam erleben können, hätte sie nur ein klein wenig mehr Vertrauen in Till und in sich selbst gehabt. Aber ihre Angst war größer gewesen, und nun war trotzdem alles kaputt. Sie wünschte sich, eines Tages damit leben zu können. Vielleicht würde ihr das gelingen, wenn erst ein wenig Zeit ins Land gestrichen war.
Die Jahre vergingen, jedoch nicht ohne einen Tag, an dem sowohl Sarah als auch Till nicht aneinander dachten und sich wünschten, das enge Band der Freundschaft würde sie noch immer verbinden. Ihnen beiden fehlten die innigen Gespräche, die langen Telefonate, wenn es draußen regnet und sie beide zu Hause saßen oder die gemeinsamen Unternehmungen, bei denen sie immer so viel Spaß gehabt hatten.
Auch ihren Eltern war nach einer Weile aufgefallen, dass ihre Kinder sich kaum noch miteinander trafen und sie irgendwie bedrückt gewirkt hatten. Aber Sarah und Till waren beide in einem Alter gewesen, in denen man nicht mit seinen Eltern über seine Probleme sprach, und so hakten die Eltern der beiden auch nicht weiter nach. Untereinander trafen sie sich weiterhin und verstanden sich noch immer sehr gut. Natürlich sprachen sie auch über ihre Kinder, die nun reife Teenager gewesen waren und Beziehungen hatten, die in den Augen der Eltern wohl dafür verantwortlich gewesen sein mussten, dass die Freundschaft zerbrochen war.
Till hatte es tatsächlich geschafft, seine Beziehung zu Katja aufrecht zu erhalten. Sie schienen beide sehr glücklich zu sein, zumindest hatte es den Anschein nach außen hin. Niemand außer Till selbst wusste, was wirklich in seinem Inneren vorging.
Aber er war ein Meister des Verdrängens, auch wenn es ihn innerlich fast zerstörte, nicht mehr in Sarahs Nähe sein zu können. Ab und zu war Sarah den beiden kurz begegnet. Dann hatten sie lediglich einen kurzen Blick und ein leicht angedeutetes Lächeln gewechselt und waren sogleich einfach aneinander vorbei gelaufen, als würden sie sich nur vom Sehen her kennen.
Till waren solche Situationen stets unangenehm gewesen. Er kam sich unfair vor Sarah gegenüber, aber er musste sich selbst schützen und wollte auch Katja nicht unnötig weh tun, indem er ihr seine Gefühle für Sarah offenbarte, obwohl diese Sache sowieso keine Zukunft hatte. Dass er Sarah damit noch viel mehr weh tat, als er vermutete, war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst…
Bei Sarah war es nicht ganz so gut gelaufen. Ihre Beziehung zu Steffen war nicht von sehr langer Dauer gewesen, und auch die beiden darauffolgenden jungen Männer, mit denen sie sich auf eine Art Beziehung eingelassen hatte, hatten den Verlust ihres besten Freundes selbst nach mehreren Jahren nicht lindern können
Sarah konnte gedanklich einfach nicht von Till loslassen. Auch, wenn sie sich nur noch sehr selten sahen und sich dadurch kaum noch miteinander unterhielten, fühlte sie sich noch immer zu ihm hingezogen und vermisste ihn unheimlich. Ihre Gefühle für ihn ließen auch in all der Zeit nicht nach, aber sie wäre einfach schon froh gewesen, hätten sie wenigstens wieder Freunde sein können. Aber er hatte sich dafür entschieden, den Kontakt abzubrechen und seinen eigenen Weg zu gehen, warum auch immer.
Mit dem baldigen Schulabschluss stellte sich auch die Frage nach dem Berufswunsch. Sarah wollte schon immer etwas Handwerkliches machen anstelle eines Bürojobs. Sie wusste, dass der Beruf des Friseurs nicht sehr gut bezahlt und die Ausbildung nicht einfach war, aber es war ihr Wunsch gewesen.
Außerdem hoffte sie, irgendwann ihre Ausbildung fortführen und ihren Meistertitel erwerben zu können, um anschließend einen eigenen Salon zu eröffnen. Sie hatte sich frühzeitig um einen Ausbildungsplatz beworben und hatte nach nur wenigen Absagen eine Stelle in einem Friseursalon in der Innenstadt bekommen. Ihre bevorstehende Ausbildung verschaffte ihr neuen Mut. Somit hatte sie etwas Neues, auf das sie sich konzentrieren konnte. Vielleicht würde ihr das ein wenig über Till hinweg helfen.
Till hingegen wollte schon im Kindesalter sein Abitur machen, studieren und dann Im IT-Bereich tätig werden. Alles, was mit Computern und Technik zu tun hatte, hatte ihn schon früh interessiert. Ständig hatte er sich gefragt, wie Technik so intelligent sein konnte. Und wie sich herausstellte, hatte Till den ersten Schritt in diese Richtung geschafft.
»Du und Till, ihr seht euch nicht mehr sehr oft, oder?« Andrea, Sarahs Mutter, hatte sie sonst nie darauf angesprochen.
»Nein. Schon lange nicht mehr,« sagte Sarah in einem resignierenden Ton, der ihrer Mutter gegenüber zum Ausdruck bringen sollte, dass das Ende ihrer Freundschaft schon sehr lange her war und es nichts Neues war, dass sie so gut wie keinen Kontakt mehr zu Till hatte.
»Jedenfalls, Tills Mutter hat mir erzählt, dass er nun aufs Gymnasium gehen wird, um sein Abitur zu machen. Sie sagt, er will später mal studieren.«
Sarah freute sich einerseits für ihn, dass bislang alles so lief, wie er es sich immer gewünscht hatte und er eine reelle Chance