In den darauffolgenden Monaten kümmerten sie sich weiter um die Schule, trafen sich mit Freunden, aber unternahmen auch weiterhin viele gemeinsame Dinge. Ab und an fuhren sie gemeinsam an den See oder gingen ins Kino, sofern sie sich auf einen bestimmten Film einigen konnten, ohne dass einer der beiden sich langweilte. Sie saßen abends lange beisammen und erzählten sich gegenseitig von ihren aktuellen Schulleistungen, die bei beiden leicht über dem Durchschnitt gelegen hatten und erinnerten sich wieder einmal – wie so oft – an ihre gemeinsamen Erlebnisse aus ihrer Kindheit, die in der Zwischenzeit eine Ewigkeit zurück zu liegen schien. Einerseits konnten sie sich an so viele Dinge genauestens erinnern, als wäre es erst gestern gewesen, und doch erkannten sie, wie viel Zeit mittlerweile vergangen war. »Wir werden eben älter« hatte Sarah eines Abends zu Till gesagt.
»Und reifer« war Tills Antwort hierauf gewesen. Oh ja, reifer waren sie geworden. Reifer, hübscher, erwachsener.
Auch ihre Interessen hatten sich verändert. Als sie an jenem Abend bei Sonnenuntergang an dem alten Spielplatz hinter dem Haus saßen und sich schweigend in die Augen sahen, hatte sich mehr verändert, als ihnen lieb war. Sie sahen sich gegenseitig plötzlich mit anderen Augen. Sie waren nun zwei Jugendliche, die entdeckten, was es bedeutete, jemanden interessant zu finden. Jemanden hübsch oder gutaussehend zu finden.
Sich zu jemandem hingezogen zu fühlen, sich zu wünschen, man könnte die Person, der man gegenüber saß, fest in den Arm nehmen und küssen. In diesem einen Moment hatten sich sowohl Sarahs als auch Tills Gefühle verändert. Beide empfanden mehr als nur Freundschaft. Alles war anders als in den Jahren zuvor.
Sie hatten sich sehr lange schweigend in die Augen gesehen während sie beide, jeder für sich selbst im Stillen, erkannten, was gerade mit ihnen passierte. Nichts ahnend, dass der beste Freund bzw. die beste Freundin im gleichen Moment genau das gleiche empfand.
Was war nur gerade mit ihnen passiert? Niemals hätten sie das für möglich gehalten. Sie waren doch Freunde. Beste Freunde. Seit einer gefühlten Ewigkeit, bis in alle Ewigkeit. Das hatten sie sich damals geschworen, als sie Blutsbrüderschaft geschlossen hatten, auch wenn Sarah sich damals anfangs geziert hatte, als sie das Blut gesehen hatte und sich vorgestellt hatte, ihres würde sich mit Tills vermischen.
Aber dann hatte sie sich überwunden und es doch getan, um der Freundschaft Willen. Genau aus eben diesem Grund. Hatte sie sich tatsächlich gerade in ihren besten Freund verliebt? Es gab so viele andere gutaussehende Jungs, warum musst es ausgerechnet Till sein? Sie konnte doch nicht einfach ihre Freundschaft aufs Spiel setzen. Was wäre, wenn sie tatsächlich eine Beziehung eingehen und ausprobieren würden, was Jugendliche in ihrem Alter nun mal so ausprobierten? Und dann? Dann würden sie merken, dass das keine so gute Idee war oder würden jemand anderes kennenlernen und dann wäre ihre Freundschaft ein für alle Mal zerstört.
Im nächsten Moment machte Sarah sich schon wieder ganz andere Gedanken. Till wollte sicher sowieso nichts von ihr, und das war auch ganz gut so. Er war schon immer der Vernünftigere von ihnen beiden gewesen und sicher wäre er nicht so dumm gewesen, ihre Freundschaft in unsichere Bahnen zu lenken.
Doch auch, wenn ihre Freundschaft noch so eng gewesen war, konnte Sarah Tills Gedanken nicht lesen. Ob das gut oder schlecht gewesen war, würde sich erst später zeigen. Denn Till war es in diesen Minuten der Stille nicht viel anders ergangen. So cool und gefasst er auch immer gewirkt hatte, hatte er nun doch einen sehr nachdenklichen Blick in seinen Augen.
Auch er sah Sarah plötzlich sozusagen aus einem anderen Blickwinkel. Mit den Augen eines jungen Mannes, der gerade dabei war, langsam aber sicher erwachsen zu werden und sich zum ersten Mal zu verlieben. Aber ausgerechnet in seine beste Freundin? Das konnte doch nicht wahr sein. Er hatte zwar schon oft gehört, dass aus Freundschaft irgendwann eine Beziehung oder annähernd etwas wie Liebe geworden war, aber er wusste ebenso gut, dass solche Beziehungen in der Regel nicht lange hielten. Und am Ende einer solchen Beziehung – wenn man sie denn, trotz der vorangegangenen, engen Freundschaft tatsächlich eingegangen war – war die Freundschaft ebenfalls erloschen.
In den meisten Fällen ignorierten sich die Beteiligten oder hassten sich sogar. Niemals wollte er Sarah als seine beste Freundin verlieren. Daher kam er gar nicht auf die Idee, sich irgendetwas Derartiges anmerken zu lassen, geschweige denn ihr zu erzählen, was er für sie plötzlich zu empfinden schien oder was sie in der Zwischenzeit für ihn geworden war. Nämlich eine wunderschöne, junge Frau, die sein Herz berührt hatte wie kein anderes Mädchen zuvor.
Aber an diesem Abend hatte er sich selbst etwas versprochen: Dass er von nun an ein Geheimnis hatte, das er mit niemandem teilen würde. Auch nicht – erst recht nicht – mit Sarah. Das war neu für ihn. Sonst hatten sie sich immer alles gegenseitig anvertraut, ganz gleich, worum es ging.
Das war er gewesen, dieser eine Moment, der alles und auch nichts veränderte. Dieser Moment, ab welchem die beiden zum ersten Mal in ihrem Leben und im Laufe ihrer Freundschaft getrennte Geheimnisse hatten, obwohl diese Geheimnisse den gleichen Inhalt in sich trugen. Ihre verborgenen, tiefergehenden Gefühle füreinander, von denen niemand etwas wusste, außer sie selbst. Und das sollte möglichst so bleiben. Wenn es ginge, für immer. Zumindest war das der Plan.
3. Kapitel
Sarah schaute verträumt über den Spielplatz, der um diese Uhrzeit schon leer war. Sofern hier noch kleine Kinder wohnten, waren diese sicher schon mit dem Abendessen beschäftigt oder lagen sogar bereits in ihren Betten, während ihre Mütter ihnen Gute-Nacht-Geschichten vorlasen.
Trotz der vermeintlich verbotenen Gefühle im Verborgenen blieben Sarah und Till noch lange befreundet. Allerdings trafen sie sich nicht mehr allzu oft. Vielleicht lag es an ihren Gefühlen füreinander, die sie beide versuchten, zu verdrängen. Sie hatten beide versucht, sich abzulenken.
Sie trafen sich mit anderen Freunden und verbrachten nur noch sehr wenig Zeit miteinander. Während dieser Zeit versuchten sie, wie gewohnt miteinander umzugehen, was auch ganz gut geklappt zu haben schien. Und Dank größter Bemühungen schafften sie es, feste Partner zu finden und sich auf ihre jeweiligen Beziehungen einzulassen. Till schien es etwas leichter gefallen zu sein als Sarah. Sarah saß wie immer auf der kleinen Mauer im Schulhof, als sie Till einige Meter weiter weg dastehen sah. Allerdings war er nicht alleine gewesen. Er hatte ein Mädchen im Arm und ab und zu hatten sie sich geküsst. Im ersten Moment versetzte es Sarah einen Stich mitten ins Herz, aber sie versuchte sich schnell ins Gedächtnis zu rufen, dass es ganz gut so war.
Er hatte nun also eine Freundin, so würde er bald uninteressant für Sarah werden und sie könnte sich ebenfalls einen netten Kerl suchen, der sich für sie interessierte. Das einzige, das sie wirklich verletzte, war die Tatsache, dass sie es auf diese Weise erfahren musste. Sie hatte es einfach gesehen.
Er war nicht zu ihr herübergekommen, mit seiner Freundin im Arm und hatte die beiden Mädchen einander vorgestellt. Wusste dieses Mädchen überhaupt, dass er eine beste Freundin hatte und dass sie diejenige war? Wahrscheinlich nicht.
Sie dachte einen Moment nach und kam zu dem Schluss, dass sie wohl ähnlich handeln würde. Was würde ein Junge von ihr denken, wenn sie sagen würde: »Und das hier ist mein bester Kumpel«? Richtig, er würde sicher eifersüchtig werden. War sie gerade eifersüchtig? Sicher, ein wenig, aber sie gab sich große Mühe und versuchte, sich für ihren besten Freund zu freuen, auch wenn sie für ihn nun sicher erst einmal eine Weile abgeschrieben war.
Traurig war sie an diesem Nachmittag nach Hause gegangen, hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, traurige Lieder gehört, sich alte Fotos von Till angesehen und viel geweint. Sie überlegte immer wieder, was passiert wäre, wenn sie ihm ihre Gefühle gestanden hätte. Sicher, ihre Freundschaft wäre früher oder später in die Brüche gegangen. Was auch sonst? Hatte sie ernsthaft in Erwägung gezogen, er könnte das Gleiche für sie empfinden und sie würden glücklich werden bis ans Ende ihrer Tage? Sowas gab’s doch eh nur im Märchen. Das waren Träumereien einer pubertierenden Jugendlichen, nichts weiter.
Sie hatte sich einen Tag der Trauer und der