Magda blickt sich automatisch um, obwohl sie sich hier überhaupt nicht mehr auskennt. Sie sieht nur Bäume und Sträucher, wie schon die ganzen letzten Tage, seit sie wandern. Früher war sie nie so weit aus dem Dorf gekommen. Wie sollte sie da wissen, wo sie waren. Außerdem hatten sie nur selten die große Handelsstrasse benutzt. Vielmehr waren sie auf vielen Umwegen gewandert, schließlich suchte der Mönch ja nach Orten für eine Niederlassung.
Magda weiß nicht, was für sie schöner wäre. Hier durch den Wald zu laufen oder zu Hause auf dem Feld zu arbeiten. Die Anstrengungen der Bauernarbeit ist sie gewohnt. Das lange Laufen aber tut ihren Füßen weh. Und dazu noch der Singsang des Mönches. Oder seine Vorhaltungen und Ermahnungen ob ihrer bösen Tat.
Sie hat nichts Böses getan. Nur die Wahrheit gesagt. Aber das darf man als Unfreie nicht. Als sie Servatius ihren Standpunkt klar machen will, meint er nur: „Es ist Gottes Wille, dass wir uns in Demut üben, wie es sein Sohn Christus tat. So nimm deine Strafe hin und danke dem Herrn.“
Damit aber stößt er natürlich bei Magda auf Unverständnis. Sie weiß kaum etwas über die Lehre Christi. Das bisschen, das sie bisher gehört hat, erscheint ihr nicht verlockend. Dann lieber die alten Götter der Ahnen.
„Eigentlich“, so meint Servatius, „sehe ich für dich auch keine Strafe. Dein Herr hat es doch sehr gut mit dir gemeint. Natürlich wirst du auch im Kloster schwer arbeiten müssen, so lange du es vermagst. Du wirst vor dem Kloster bei den Bediensteten leben, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang deinen Aufgaben nachkommen, aber du bist auch versorgt. Die Arbeiten dort kennst du schon von deinem Onkel und seiner Frau. Schwere Feldarbeit und Vieh hüten und versorgen. Nichts Neues für ein Bauernkind. Oder, weil du eine Frau bist, in Küche und Haushalt helfen. Waschen, nähen, putzen; alles was du auch bisher schon machen musstest. Sicher wird dort ein Medicus zu finden sein, der dir bei der Entbindung beistehen kann. Du wirst dort viel lernen können über Kräuter oder feine Gemüse und Blumen im Garten. Vielleicht kannst du auch ein wenig Rechnen, Lesen und Schreiben lernen. Damit kann aus dir bestimmt sogar noch etwas werden. Wie wäre es für dich, du gäbest dein Kind an andere Eltern und gingest in ein Frauenkloster? Für´s Leben wohl behütet und versorgt, in Gottes Nähe, stets bereit Gutes deinen Mitmenschen zu tun. Das ist doch sicher ein besseres Leben als das, das du als Unfreie bei deinem Herren je hättest erwarten können. Sieh es doch mal von der Seite und denke darüber nach. Wirklich, Kind, ich glaube, dein Herr will dir mehr helfen, als dass er dich strafen will.“
Magda ist erstaunt. Kann das sein? Ihr Herr will ihr helfen? Wofür? Warum? Ja, es ist richtig; schwer arbeiten ist sie gewohnt. Und auch die Hausarbeiten sind ihr bekannt. Von ihrer Großmutter hat sie auch schon so manches Kraut kennen und nutzen gelernt. Doch was hat der Mönch gestern erklärt, als sie fragte, warum er so oft bete? >Ein frommer Mönch ist ein Vorbild für die Menschen. Ein Leben in Christi heißt Armut und Verzicht und Frömmigkeit. Täglich sieben Gebete, eines des Nachts und sechs tagsüber, seien Pflicht.< Das gilt dann sicher auch für die Nonnen. Auch das mit dem Fasten gefällt ihr nicht so besonders. Wenn es schon was zu essen gibt, braucht sie keinen Fastentag oder zwei in der Woche. Dann will sie jetzt essen; morgen hat vielleicht ein Anderer es weg gegessen.
Aber Magda hatte wieder einmal nicht richtig zugehört. Als Servatius dies erzählte, sprach er von den Regeln für die Mönche. Diese galten aber nicht vollständig für die Bediensteten. Nein, war ihr Schluss, der Herr hatte es bestimmt nicht gut mit ihr gemeint. Bestimmt will der Mönch nur, dass sie auf der langen Wanderschaft keinen Ärger macht, weil sie sich auf ihr neues Leben freut. Nein, ins Kloster will sie nicht. Überhaupt nicht. Schläge wegen Ungehorsam oder Regelbruch bekam sie überall. Dafür braucht sie kein Kloster.
Schweigend gehen sie weiter bis zum Abend. Servatius glaubt, ihr das Leben im Kloster gut dargelegt zu haben, während Magda froh ist, endlich keine wohlgemeinten Sprüche mehr hören zu müssen. Die kommen nun beim Nachtlager.
„Morgen werden wir bei Steinaha sein. Dann haben wir schon ein gutes Stück des Wegs geschafft. Sicher freust du dich schon darauf, ins Kloster zu kommen, doch gedulde dich noch ein wenig. Es wird noch ein schwerer Gang. Immer weiter hinauf in die Höhen.“
Magda gibt keine Antwort und kaut still auf dem alten Brot herum.
„Die Menschen wissen gar nicht, in welch gefährlichen Zeiten sie leben. Dabei gibt Gott der Herr ständig seine Zeichen für alle sichtbar an den Himmel. Da war zum Beispiel vor rund hundert Jahren, es muss wohl zu Beginn von Kaiser Justinian I von Rom gewesen sein, eine Erscheinung am Himmel, die man Pogonia nannte. Kaum nahm Gott dies Zeichen weg, erbebte in Mösien die Erde so heftig, dass sie aufriss und sogar Berge gespalten wurden. 24 Kastelle wurden damals in kurzer Zeit vernichtet. Welche irdische Armee könnte dies vollbringen?
Keine zwanzig Jahre später sendet Gott das Zeichen Lampadia ans Firmament und siehe, in Ancona bricht eine große Hungersnot aus. Bald darauf schickt Gott sein Zeichen nach Gallien und, was soll ich dir sagen, es fällt blutroter Regen. Noch lange danach waren die Hauswände mit Blut befleckt und die Pocken brachen aus.
Im Nordwesten“, er fuchtelt mit seinem Arm in die vermutete Richtung, „haben sie am Himmel eine Lanze gesehen und es dauert nicht lange und es folgt ein Gewitter, wie es vorher noch keine Menschenseele je erlebt hat. Nur zwei Jahre später steht die Lanze über dem Himmel von Konstantinopel und die Erde bebt zehn Tage lang. Danach hat es einen so strengen Winter, dass der zurzeit von König Theudebert I harmlos erschien. Damals war es so kalt, dass die Leute die Vögel mit der Hand fangen konnten. Die Tierchen wollten nicht mehr fliegen. Der Winter war so unsäglich kalt, dass sogar die große und mächtige Donau zufror und Zaberga, dieser Ungläubige, seine Hunnen nach Mösien und Thrakien, ja zum Schluss auch noch bis zu den Hellenen führen konnte.
Gott ist allmächtig. Er sendet seine Warnzeichen und keiner achtet sie. Ist Christus denn umsonst gestorben? Haben die Menschen immer noch nicht gelernt? Die Mönche und Gläubigen, die darum beten, hat der Herr beschützt.“ Voller Inbrunst predigt Servatius.
„Später, Papst Johannes III ist erst wenige Jahre in Amt und Würde, da bricht in der Lombardei und Gallien die Beulenpest aus. Alle Römer und nur die Römer erkranken daran, bis an die alemannischen und bojoarischen Grenzen. Ja, Gott liebt seine Kinder. Er setzt ihnen ein Zeichen, drei Nebensonnen und ein ganzes Jahr lang steht ein Schwert am Himmel, damit sie sich retten können. Dann stürzt er einen Berg in die Rhone, dass das Wasser weit ins Land fließt. Wer trotzdem bleibt, ist nach drei Tagen tot. Es trat eine Stille im Land ein, die es nicht mehr gegeben hat, seit dort Menschen lebten. Die Trauben hingen noch an den Rebstöcken, als die Blätter schon abgefallen waren.
Auch die Westgoten hat der Herr heimgesucht. Ich denke da nur an die Zeit, als eine Leuchterscheinung in Tours mit so lautem Knall explodierte, dass es unvorstellbar weit zu hören war. Es folgt ein Erdbeben und viele Scheunen geraten von selbst in Brand. Ich kann die Liste beliebig fortsetzen, von Wölfen, die wie betäubt in die Stadt rennen und sich tot schlagen lassen, von wilden Stürmen, die Mensch und Tier und größte Bäume und Häuser fort reißen, selbst die Heuschreckenplage, wie zu Zeiten Pharaos, schickt Gott erneut. Auch Überschwemmungen, starken Regen mit Hagel und und und. Stets aber hat Gott der Herr seine Zeichen an den Himmel gestellt, um seine Kinder zu warnen und zu beschützen. Über zehn Jahre währt die Not und nur wenige achten darauf. Wer Augen hat, der sehe, wer Ohren hat, der höre. Welch wahre Worte doch in der Bibel stehen, Magda. Magda?“
Magda ist fest eingeschlafen.
Am frühen Morgen sind sie wieder aufgebrochen. Servatius ist immer noch etwas eingeschnappt, weil Magda ihm am Abend bei seiner doch so wundervollen Predigt nicht zugehört hat und bis jetzt hat er noch kein Wort gesprochen. Selbst seine Gebete verrichtet er in Stille. Wo er doch sonst immer laut betete, damit Magda ihn höre. Was hätte sie das Gerede gestern aber auch interessieren sollen? All die fremden Orte, so weit, und die fremden Namen, die ihr nichts sagten. So lange vor ihrer Zeit. Ach sollte doch dieser Christengott tun, was er wollte. Ihre Götter waren bestimmt stärker. Konnten die doch sogar Riesen besiegen. Und Blitzen und Donnern konnten die auch. Wenn die mal einen Hammer schmissen, bebte die Erde auch und ganze