„Magda, wo bist du? Ich kann dich nicht finden. Komm zurück!“ Das ist Hilda, die kleine Tochter ihres Onkels, die sie so sehr liebt. Es zerreißt ihr fast das Herz. Aber nein, das kann doch nicht sein. Magda dreht sich im Kreis, kann aber noch immer niemanden erblicken. Wo kommen die Stimmen her? Das ist doch nicht möglich. Sie verspürt den Drang, nach Hause zu gehen. Dort ist es doch viel schöner, als hier. Sie kann es nicht begreifen. Sie hört die Stimmen, klar und deutlich. Aber sie kann niemanden sehen. Wie kann das nur möglich sein. Wie?
Schon lange ist sie keinen Schritt mehr gegangen. Die Stimmen haben sie aufgehalten. Aber sie will doch weiter. Sie will doch eine Siedlung finden, neue Menschen, die sie aufnehmen, weil sie zu Hause nicht mehr sein darf. Aber jetzt rufen sie die Stimmen nach Hause zurück. Das ist doch nicht vernünftig. Oder doch? Hat sie sich geirrt? Haben Onkel und Tante sie doch lieb? Warum hört sie ihre Großmutter nicht?
Nein, so gerne sie auch wieder nach Hause ginge, aber es ist ihr doch verboten. Der Herr selbst hat sie fortgeschickt. Will man sie nach Hause locken, damit sie bestraft werden kann? Wie gemein. Sogar die kleine Hilda missbrauchen sie, um mich zu kriegen, denkt Magda.
Sie merkt nicht, dass sie bereits die Stimmen ernst nimmt. Sie spürt nicht, dass sie die Realität nicht mehr wahr nimmt. Ihre Umgebung verschwimmt vor ihren Augen. Der Bach, die Hecke – nichts mehr sieht sie so, wie es ist. Eine Scheinwelt baut sich in ihr auf. Jetzt sieht sie auch ihre Lieben und auch die weniger oder gar nicht Geliebten. Sie sieht Großmutter, die die kleine Hilda auf dem Schoß hat. Beide schauen so unendlich traurig drein. Sie sieht jetzt auch Tante und Onkel. Sie stehen nicht weit vor ihr und schauen gar nicht freundlich.
Dann sieht sie Hermann, des Grafen Sohn und Vater ihres Kindes. „Na, du Lügnerin! Trau dich nur her. Man wird dich lehren, die Wahrheit zu sprechen. Der Stock freut sich schon, auf deinem Rücken zu tanzen. Komm nur, komm nur.“, hört sie ihn rufen. Und zu allem Überfluss taucht übermächtig hinter allen der Graf auf, riesig groß, und er schreit nach ihr. „Magda, ich kriege dich! Wo du dich auch versteckst! Du entkommst mir nicht! Wage es nicht, weiter zu gehen!“
Aus dem Wunsch, weg zu gehen, ist ein Zwang zur Flucht geworden. Dort vorne, hinter der Hecke, da sind sie alle. Da warten sie alle, um ihr Böses zu tun. Nein, ihr kriegt mich nicht. Ihr habt mich nicht lieb. „Nein!“ schreit Magda, „Ich will nicht. Lasst mich.“, bricht es aus ihr heraus.
Magda dreht sich um und rennt. Sie rennt und rennt und rennt. Sie kann nicht mehr denken. Des Zaubers, dem sie gerade erliegt, kann sie sich nicht erwehren. Denn ja, dies ist ein Zauber. Alle Menschen, die sie gesehen und gehört hat, sind überhaupt nicht gegenwärtig. Es gibt sie hier nicht. Im Moment verschwendet keiner von ihnen auch nur einen Gedanken an sie. Vielleicht ausgenommen Großmutter und Hilda. Ein Abwehrzauber zwingt sie dazu, sofort und so schnell wie möglich von diesem Ort zu verschwinden. Ihm nicht näher zu kommen.
Sonst wirkt der Zauber nicht so stark. Er ist ausreichend, jeden, der nicht willkommen ist, zu vertreiben. Doch bei Magda, die schon so schreckliches kurz zuvor erlebte, wirkt der Zauber so viel stärker. Schon wieder rennt sie, ohne auf irgendetwas zu achten, durch den Wald. Jedes Tier, das sie bei ihrer Flucht aufscheucht, erschreckte sie noch mehr. Doch diesmal rettet sie keine schützende Ohnmacht.
Völlig verwirrt und unendlich erschöpft kämpft sich Magda weiter durch den dunklen Wald. Mit den Armen drängt sie kleine Äste aus dem Weg. Doch sie erwischt nicht alle und manches mal erhält sie dann einen Schlag gleich einer Peitsche ins Gesicht. Kein Lichtstrahl des inzwischen voll aufgegangenen Mondes erreicht durch das dichte Blätterdach den Boden. Schwer atmend lehnt sie sich an den Baumstamm, dessen Wurzeln sie eben fast zu Fall gebracht hatten, und sieht sich um. Bei der Dunkelheit eine vollkommen unnötige Bemühung. Sie sieht nichts.
Aber ihre Angst treibt Magda vorwärts. Sie hat zwar keine Ahnung, in welche Richtung, geschweige denn wie weit, doch immer weiter stolpert sie dem unbekannten Ziel entgegen. Plötzlich steht Magda vor einem sehr großen hellen Felsen, der sich deutlich aus dem Dunkel abhebt. Fast wäre sie daran gestoßen, denn trotz seiner hellen Farbe hat sie ihn erst gar nicht gesehen. Rechts und links von sich ertastet Magda weitere Felsen der gleichen Farbe. Er fühlt sich merkwürdig an. Er ist nicht glatt, sondern irgendwie - schuppig. Ja, genau. Einen schuppigen Felsen kennt sei nicht. Sonderbar. Zurück gehen will sie nicht, weiter gehen kann sie nicht. Kraftlos sinkt sie mit dem Rücken zum Felsen zu Boden. Und noch in dieser Bewegung verlangt der Körper sein Recht nach Ruhe. Magda ist tief eingeschlafen.
Bei den Halblingen in Lindenbach
„Das nenn ich mal eine göttliche Fügung.“ Der Empfänger dieses Gedankens empfindet ihn als zart und leise.
“Du weißt, dass ich nicht an Götter glaube.“ Diese Antwort müsste man in Tönen eher als brummigen und besonders tiefen Bass einstufen. Doch sie ist nicht hörbar. „Götter sind für die Schwachen, die einen Schuldigen für ihr Unglück suchen. Ich habe noch nie einen Gott gesehen.“
„Götter sind aber auch für Kraft und Trost da. Und natürlich kann man keinen Gott sehen. Das sind übergeordnete Wesen, die man nur spüren kann.“ Der zarte Gedanke hat etwas Trotziges; aber auch Beharrliches.
„Ich habe auch noch nie einen Gott gespürt.“ Kommt es ebenso trotzig brummig zurück. „Alles nur Hirngespinste. Ich kannte schon viele, die an irgendeinen Gott glaubten. Doch im entscheidenden Moment waren sie allein. Nimm doch zum Beispiel …“
„Ich weiß, wie alt du bist und wen du schon alles kennen gelernt hast, wie du es nennst.“, fällt die zarte Stimme ins Wort. „Du hast die Menschen doch bisher nur beobachtet und ihre Gedanken gelesen. Jetzt versuchst du erneut Kontakt aufnehmen, um den Halben zu helfen. Außerdem haben wir diese Diskussion schon unzählige Male geführt. Du hast deinen Standpunkt und ich meinen. Schluss damit. Wenden wir uns lieber wieder dem Menschenkind an deiner Seite zu. Ich sage es anders: Das ist doch ein wunderbares Zusammentreffen der Ereignisse; oder?“ Man merkte, dass die zarten Gedanken bemüht waren, nun keinerlei Ansatz für weitere Diskussionen zu geben.
„Ja, doch, es kommt mir sehr gelegen. Ich hoffe sehr, dieses Mal eine geistig stärkere Ausgabe eines Menschen erwischt zu haben. Auch wenn das Gedankenmuster bis vor ihrem Einschlafen doch eher äußerst schwach wirkte.“
„Du hast die falschen Muster wahrgenommen. Diese Menschenfrau trägt eine Frucht im Leib und du hast das Muster des Ungeborenen erfasst. Doch auch darin finde ich schon erstaunliche Kraft. Aber auch die Mutter hat eine besondere Ausstrahlung. Ich denke, diesmal wird es gelingen, wenn du nicht gleich wieder so ungehalten und stürmisch auf das einfache Menschlein zu gehst. Das sind empfindliche Geister, die mit viel Fingerspitzengefühl vorbereitet und behandelt werden müssen. Wenn du los schreist, können Menschen das nicht aufnehmen und die empfindlichen Gehirne gehen kaputt. Der arme Mann vom letzten Mal ist heute noch in einem Zustand, den die Menschen wahnsinnig nennen.“ Empörung und Belehrung trugen diese Gedanken in sich mit.
„Das kannst du mir nicht anlasten. Der hat schon das Schreien und irre Lachen angefangen, als ich ihn nur mit dem linken Auge angesehen habe. Dass ich brüllte war nur der Versuch, zu retten was zu retten wäre. Nicht meine Schuld.“ Ein klein wenig beleidigt sein schwang in dem Gedanken. Doch die folgenden Gedanken waren spürbar schalkhaft: „Sie trägt eine Frucht in sich, sagst du. Hat sie einen Apfel gegessen?“
Die Schwingungen der darauf ausbleibenden Antwort waren nicht zu beschreiben. Eine Mischung aus Erstaunen, Empörung, Verletzung und vielem mehr.
„Entschuldigung, sollte ein Scherz sein.“
„Diesmal hast du mit dem Gottesglauben angefangen.“
„Ich habe mich ja entschuldigt.“