Coswig besaß ebenfalls ein Schloss, das grau und abweisend seine mächtigen Mauern über den Fluss erhob. Einst war es ein barocker Wohnsitz gewesen. Eine dreiflügelige Anlage mit Treppenturm, deren Innenhof sich zur Elbe hin öffnete. Aber seit es als Gefängnis genutzt wurde, hatte man einen vierten Flügel angefügt, so dass von der verspielten Pracht rein gar nichts mehr zu sehen übrig geblieben war. Dunkel und unheildrohend thronte es über der Stadt und die Leute flüsterten über das Elend in seinen Mauern. Auch von der Hauptstraße trennte es ein hoher Steinwall. Und in den oberen Stockwerken ließen sich gelegentlich schemenhafte Gesichter durch die vergitterten Fenster erahnen. Ein Schloss wie bei Kafka. Die Leute versuchten es zu ignorieren, was bei seiner Größe nicht eben einfach war.
Das Städtchen war heil geblieben, der Krieg hatte uns übersehen. Die Bomberverbände waren über uns hinweggedonnert, um ihre tödliche Ladung über Dessau zu kippen. Wir waren nicht kriegswichtig genug. Gott sei Dank. So konnten wir weiter in der Luisenstraße wohnen, das einzige Anwesen, an welches ich mich erinnern kann.
Ich wusste wohl dunkel, dass ich in der Turmvilla geboren worden war, doch das interessierte mich nicht sonderlich. Auch kannte ich das Bauwerk weniger von Besuchen bei der ungeliebten Verwandtschaft, sondern eher von endlosen Anproben bei dem taubstummen Herrenschneider, der ebenfalls einige Räume für sich und seinen Sohn reklamiert hatte. Das Haus mit den vielfarbigen Flurfenstern, die bei Sonnenlicht wunderliche Muster auf die Wände des Inneren malten, wirkte trotz des bunten Glases immer düster und dunkel.
Der Schneider war stumm und sein Sohn Hansi stotterte. Doch da Hansi in meine Klasse ging, freundeten wir uns ein wenig an und durchstreiften des öfteren den seltsam kahlen Obstgarten, der hinter dem Haus lag. Keine einzige Blume zierte diesen Garten, und auch der große Vorplatz sah nie eine gärtnerische Hand.
Hansi war es, der mir die beiden Turmzimmer zeigte, nachdem wir herzklopfend das brüchige, hölzerne Treppenhaus überwunden hatten. Die Aussicht aus den Fenstern war schier berauschend. In der Ferne erhoben sich die waldigen Hügel des Flämings, überragt vom Bismarckturm, einem Aussichtsturm, der regelmäßig das Ziel unserer Schulwanderungen war.
Auf der anderen Seite sah man über die Dächer der Stadt zu den vier Türmen des Schlosses, erspähte das Rathaus und die Kirche und weiter erahnte man Wörlitz auf der anderen Elbseite. Sofort erwachte in mir der Wunsch, selbst einmal mit solcher Aussicht zu leben, die mich das Schönste dünkte, was ich je gesehen. Ich sah hinüber zur anderen Straßenseite, wo der Kunstmaler gerade aus seinem Atelier trat, der als bester Freund des verstorbenen Vaters galt, und schwor mir, eines Tages in diesem Turm zu wohnen. Mindestens! Besser noch, gleich in einem eigenen zu wohnen. Mindestens! Oder noch besser, gleich in einem richtigen Schloss mit Aussichtsturm. Ja, das wäre es wohl! Ein Schloss musste her.
Der junge Maler, dem ich mit hochroten Öhrchen von diesem neuesten Lebensziel berichtete, grinste nur breit, bevor er sagte:
»Wahrlich, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Dein Vater hatte ähnliche Wünsche.«
Ich hatte schon viele Stunden in der Werkstatt dieses Künstlers verbracht und zugeschaut, wie er einfache Zeitungsfotos der DDR-Gewaltigen in große Ölgemälde umsetzte. Sein Können hatte mich stets tief beeindruckt. Zuhause bei uns hing eine schöne Rötelzeichnung unserer Mutter von seiner Hand.
Das Anwesen der Popigs war nicht ganz so beeindruckend wie die Turmvilla, aber hier hatte ich meine ersten Schritte gemacht, hier war das kleine Brüderchen geboren worden. Es war mein Zuhause
Es bestand aus einem schlichten, zweistöckigen Wohn- und Geschäftshaus. Ein kleiner Erker im Obergeschoss war der einzige Schmuck der Fassade. Darüber erhob sich ein Satteldach.
Hinter dem Haus öffnete sich ein überraschend großer Hof. Auf der rechten Seite Schuppen und eine Scheune, auf der linken ein großes Lagerhaus. In der Scheune befanden sich die Pferdeställe und Räume für Gerätschaften und Fuhrwerke. Darüber befand sich ein riesiger Heuboden. Durch Luken im Boden konnten die eisernen Raufen der Pferdeställe direkt gefüllt werden.
Ach, der Heuboden! Als ich heranwuchs, war er für uns Kinder der zweitschönste Ort im ganzen Anwesen. Hier konnte man toben! Es war zwar verboten, weil hier auch die Häckselmaschine stand, doch wir wurden selten erwischt.
Die Häckselmaschine war wirklich gefährlich. Ich sah einmal, wie der lederne Transmissionsriemen riss. Die Wucht, mit der er an die Wand klatschte, hätte gut einen Mann erschlagen können. Vor der Häckselmaschine hüteten wir uns. Aber nichts war mit dem Gefühl zu vergleichen, wenn wir uns, gleich nebenan, vom Gebälk laut kreischend ins das duftende Heu fallen ließen.
Gegenüber, auf der anderen Seite des Hofes, lag ein größeres Lagerhaus mit einer Rampe davor. Hier wurden die Fuhrwerke mit Düngemittel und Saatgut beladen. Im Inneren des Lagerhauses gab es einen alten Fahrstuhl, der ächzend die Getreidesäcke nach oben beförderte.
Auf der Rückseite des Wohnhauses lag der Eingang zum Büro. Daneben verbreitete eine Art amerikanische Holzveranda Urlaubsstimmung. Diese Veranda wurde nie benutzt. Von ihr hatte man einen unverbaubaren Blick auf die Brandmauer des Lagerhauses. Zwei Terrakottaampeln, die einsam und nie bepflanzt, von der Decke hingen, vervollständigten das trostlose Bild. Ganz hinten, zwischen den Stallungen und Lagerhaus, schloss eine Backsteinmauer den Hof zum Nachbargrundstück ab. Vor dieser Mauer lag die Jauchegrube. Über ihr schwebten auf Holzbalken zwei Plumpsklosetts.
Dieses herrliche Anwesen hatte sich Opa also gekauft. Aber er hatte noch mehr gekauft. Ein wirklich großes Grundstück zu Spekulationszwecken, zwischen zwei Straßen gelegen. Vorn ein Hof, umringt von Wohnungen der Angestellten, Garagen und Schuppen. Hinten eine große freie Fläche mit Apfelbäumen.
Später kaufte der Stiefvater noch ein größeres Grundstück von zwanzigtausend Quadratmetern, um auf ihm eine Obst- und Gemüseplantage zu errichten. Schließlich litt die Stadt große Not, und Vater Popig wollte die Versorgungsengpässe überwinden. Da im Hause Popig gerade eine gewisse Geldknappheit herrschte, hatte Mutter das ererbte Görlitzgeld ihrem Manne zur Verfügung gestellt. Sie tat das ohne Arg und ohne schriftliche Vereinbarung - schließlich waren sie miteinander verheiratet. Der Kaufpreis würde nach und nach auf ein Sparkonto zu Juttas und meinen Gunsten zurückerstattet werden.
Ich wusste darum und betrachtete dieses Land als Juttas und meines. Ohnehin würden wir drei Kinder eines Tages den ganzen Plunder erben, doch dieses Grundstück war vom Geld meines Vaters gekauft worden und es wurde sofort mein Lieblingsplatz, obwohl es im Grunde nichts weiter war, als ein großes Feld, das sich hinter dem Bahnhof zwischen zwei Straßen und Gärten erstreckte. Es war vollkommen flach, nur an der Bahnhofsseite ragte ein riesiger Betonklotz, mit einer Schräge in der Mitte, über den Boden. Wozu er gedient hatte, war niemanden mehr klar, er stand einsam in weiter Flur, zu groß, um einfach abgeräumt zu werden.
Hier saß ich am liebsten, ein kleiner König in seinem grünen Reich, und träumte von der Zukunft. Selbstverständlich würde ich das alles noch besser machen als der kapitalistische Ziehvater, denn ich wurde kommunistisch erzogen.
Ich würde noch mehr teilen und noch sozialer werden als er, dann würde der Neid in der Bevölkerung schon nachlassen. Schließlich gehörten wir zu den Kapitalisten und erregten allerlei Unmut im Dorf.
Die reichen Popigs und die hochnäsige Frau aus der Stadt mit ihren Modetorheiten. Tatsächlich hatte unsere Mutter den Ehrgeiz, die bestangezogene Frau Coswigs zu sein, was ihr auch spielend gelang. Tatsächlich gelang es ihr so gut, dass die Dorfkinder gelegentlich grölend hinter ihr herliefen.
Mutter war jedesmal außer sich vor Wut und schimpfte noch ein wenig mehr auf die Einwohner der Kuhbläke, wie sie unser schönes Coswig gern nannte. Sie mochte das Städtchen ganz und gar nicht und sehnte sich zurück in die Großstadt,