Die Ärzte und Apotheker, die gezwungen waren, Medikamente und Ersatzteile für ihre Apparaturen aus dem Westen zu schmuggeln. Die kleineren Fabrikanten, denen abstruse Sollerfüllungsvorgaben gemacht wurden, die sie ohne Material und geflickte Maschinen kaum noch bewältigen konnten. Die Bauern, die nicht das Verlangen hatten, in der Kolchose fremdbestimmt, auf ihrem ehemaligen Land zu wirtschaften. Die Händler, die kaum etwas zum Handeln erhielten. Die vielen Schikanen, denen der Mittelstand ausgesetzt wurde und der zu einem Exodus ohne Gleichen führte; von dem sich das Land nie richtig erholte.
Ich habe es noch im Ohr. Bei jedem Versagen einer altersschwachen Maschine wurde der Ruf „Sabotage“ laut und fieberhaft nach einem Schuldigen gesucht, bis ein Opfer gefunden war.
Wie oft hatten bedrängte Unternehmer Vater Popig ihr Herz ausgeschüttet. Klappte etwas nicht, wurde ein Plansoll nicht erfüllt, ertönte dieser amtliche Schrei und eine Untersuchungskommission suchte nach den Übeltätern. Da diese ebenfalls ein Plansoll zu erfüllen hatte, wurden die Klassenfeinde oftmals sehr schnell dingfest gemacht, und eigenartigerweise waren es meist die Unternehmer und Leiter der Privatwirtschaft, die konspirativ der jungen Republik schaden wollten.
Was von der Großindustrie übrig geblieben war, wurde zumeist von unseren Befreiern demontiert und als Reparationsleistung in stalinistische Hände überführt. Mit dem traurigen Rest durften wir leben. Es herrschte Mangel an Allem. Viele Jahre noch versuchte man mit Tauschhandel über die Runden zu kommen.
Vater Popig gelang dieses offensichtlich ziemlich gut. Kohlen, Düngemittel und Saatgut waren Güter, die zum Überleben der ländlichen Bevölkerung benötigt wurden und wir lebten nicht schlecht davon. Wir litten nicht ganz so große Not wie der Rest der Stadt, da die Bauern gern Lebensmittel gegen Saatgut tauschten. Im Frühjahr erschienen sie mit Körben voller Spargel, im Herbst mit Pilzen. Wir nahmen alles, was Hof und Garten hergaben, und Vater gab her, was er von der Planwirtschaft abzweigen konnte. Opa baute sich im Garten den dringend benötigten Tabak an, dessen Blätter, aufgefädelt in langen Girlanden, den Speicher schmückten.
Er hielt sich hinter dem Haus Karnickel, Hühner und Enten, die verdrossen in der betonierten Pfütze schwammen, die er zum Wohlergehen der delikaten Tierchen geschaffen hatte. Ich sehe ihn noch in seinem Geflügelhof sitzen, dessen Boden vom Vogelkot so widerlich glitschig war, dass ich nur selten diesen Teil des Grundstückes betrat. Er sitzt da, zwischen den Knien eine widerspenstige Gans, die sich vergeblich zu befreien sucht. Neben ihm steht ein Eimer mit Haferbrei, aus dem er mit den Händen große Knödel formt, die er der empörten und längst übersatten Gans in den Rachen schiebt. Sogar das Schlucken erleichtert er dem lieben Tier, dem der üppige Bissen buchstäblich im Halse stecken bleibt. Mit langen, massierenden Bewegungen streicht er den deutlich sichtbaren Kloß im Gänsehals nach unten, um Platz zu machen für die nächste Leckerei.
Das war noch die humanste Methode des allseits beliebten Gänsenudelns, andere Mäster nagelten die Füße gleich auf Brettchen, um den kräftezehrenden Bewegungsdrang der Tiere einzudämmen. Fett mussten sie damals sein, das Fett war wertvoll. Bei Schweinen wie bei Gänsen, denn die Bevölkerung war mager.
Ich akzeptierte die Mast achselzuckend. Tiere waren Nahrung. Und außerdem passierte den armen Gänsen sonst nichts weiter. Sie waren danach schön satt, und wer konnte das in dieser Zeit schon von sich behaupten. Ich jedenfalls war immer hungrig.
Auch ein Huhn, das orientierungslos über den Hof flog, weil sein Kopf auf dem Hackholz zurückgeblieben war, brachte mich nicht aus der Fassung. Da sah ich schon mehr den Festtagsbraten, zu dem es sich in der Röhre verwandelte, und Huhn gehörte zu meinen Leibgerichten. Es war ein eher pragmatischer Umgang mit den Nahrungsquellen, wir wohnten auf dem Land. Und mochten die Küken und Häschen auch noch so niedlich sein, waren sie groß, wurden sie gegessen.
Sogar das Schlachten von Schweinen fügte unseren Seelen keinen Schaden zu. Zwar durften mein Bruder Peter und ich nie zu Hause zusehen, wenn die Tiere abgestochen wurden. Doch ein-zweimal die Woche besuchte ich meinen Freund, den Fleischermeister, um den Werdegang des Schweines vom Tier zur Wurst genauestens zu studieren. Zumal nach vollbrachter Tat fast immer ein Würstchen dabei heraussprang. Überhaupt konnte ich Handwerkern stundenlang zusehen. Es war faszinierend zuzuschauen, wie unter ihren Händen etwas entstand.
Coswig galt als Fischer- und Töpferstädtchen. Durch die Verschmutzung des Flusses war ersterer Berufszweig ein wenig in Bedrängnis geraten, doch Töpfer gab es noch einige. Bei Onkel Gellert, einem Freund Vaters, verbrachte ich ganze Nachmittage neben der Drehscheibe in dessen Töpferei, die eigentlich schon eher eine Fabrik war. Ich konnte mich einfach nicht satt sehen an dem Wunder, das unter den Händen eines Drehers entstand. Wie die Wände eines Gefäßes nach oben strebten, höher und höher, und dabei immer dünnwandiger wurden. Geglättet durch matschigen Schlicker und ständig befeuchtete Hände. Es schien wie Zauberei. Plötzlich hatte eine Vase oder ein Krug Gestalt angenommen. Mit einem Draht vom Boden der Drehscheibe geschnitten, stand das Werk des Tonkünstlers danach auf langen Brettern, um im Schatten zu trocknen, bevor es gebrannt und glasiert das Werk verließ.
Für uns Kinder ließ der gute Onkel Gellert allerliebste Tellerchen und Krüglein drehen, doch wir achteten ihrer nicht sonderlich. Gingen sie zu Bruch, gab es bald darauf neue Geschirre, denn der Mann war kinderlieb. Mehr noch als die Puppengeschirre interessierte uns allerdings der rohe Werkstoff. Mit ihm konnte man wunderbar spielen, und wenn wir Glück hatten, wurden unsere künstlerischen Erzeugnisse mit gebrannt.
Ebenso ausdauernd konnte ich dem Glasschleifer, der im Souterrain eines Nachbarhauses seine Werkstadt betrieb, zuschauen. Die Exaktheit, mit der er Kerbe für Kerbe in dem vom Glasstaub milchigen Kühlwasser, das über den Schleifstein floss, in ein Glasobjekt fräste, bis ein wundervolles Muster entstand, nötigte größte Hochachtung ab.
Ich stand auch gern in der Backstube und beobachtete, wie der Konditor versuchte, mit den erbärmlichen Zutaten, die ihm zur Verfügung standen, üppige Torten zu kreieren. Mit Pudding, Süßstoff und schauerlichen Aromen hergestellte Cremes, die die Füllung dieser abenteuerlichen Backwerke bildeten, hatte ich allerdings so meine Probleme. Meist verzichtete ich dankbar auf die freundlich angebotenen Kostproben, ich war besseres gewohnt. Süßigkeiten waren zum Glück ohnehin nicht mein Fall. Da saß ich schon lieber in der übel beleumundeten Kutscherkneipe vor einem Becher dampfender Pferdeknochenbrühe, die dort für zwanzig Pfennige feilgeboten wurde. Die Eltern waren entsetzt gewesen, als ihnen zugetragen wurde, wo der geliebte Sohn sein Taschengeld verpulverte, doch immer wieder mal erschien der Knirps bei der Salzlecke.
Ich sah beim Schuster zu, beim Sattler und beim Schmied. Noch heute habe ich den Geruch von verbranntem Horn in der Nase, wenn ein glühend heißes Eisen unter den Pferdehuf genagelt wurde. Ich stand beim Böttcher und beim Tischler, selbst in der Molkerei studierte ich die Kunst der Käseherstellung. Ich schaute zu und lernte dabei so manches.
So habe ich auch später von Mutter kochen gelernt, allein nur vom Zuschauen.
Eine weitere Lieblingsbeschäftigung in meiner frühen Kindheit bestand darin, stundenlang durch Coswig zu stromern. Coswig gehört heute zum „Biosphärenreservat Mittleres Elbtal“ und ist vor allem wegen seiner Umgebung erwähnenswert. Von Dessau kommend, folgt die Hauptstraße ein kurzes Stück dem weiten Bogen des Flusses rechter Hand, bevor Häuser den Blick auf den Strom versperren. An dieser Straße liegen wie auf gefädelt alle Sehenswürdigkeiten. Das Schloss, der Marktplatz mit schönen Bürgerhäusern, Rathaus, Nicolaikirche, Klosterhof und einige Renaissance-Gebäude.
Vis à vis vom Rathaus biegt die Hauptgeschäftsstraße fast im rechten Winkel ab und durchquert das restliche Städtchen, um in unsere Luisenstraße zu münden.
Wir wohnten in der Nähe des Bahnhofs in einem bescheidenen Wohnhaus mit stattlichen Nebengebäuden zur Hofseite. Fuhr man die Luisenstraße noch ein Stück weiter, gabelte sich die Straße hinter den Bahnschranken.
Und dort lag mein eigentliches Geburtshaus. Eine große Villa mit Turm, die ein ziemlich hässlicher Klotz zu nennen war. Einzig der Turm mit hölzernem Wehrgang hob