Oben und Unten bezeichnen damit über eine saloppe Einordnung von Einkommensverhältnissen hinaus Beziehungsstrukturen, die sich entsprechend in neuen Lebensformen und Lebensnotwendigkeiten entwickeln. Diese Auswirkungen sind beunruhigend. Sie halten Einzug in die Seelen der Menschen und fordern psychische Verarbeitungen, die an Grenzen von psychischen Abwehrstrukturen von Menschen stoßen.
Ob es eine Wirkung hat, sich mit Phänomenen in der heutigen Zeit, die pars pro toto im vorliegenden Buch aufgegriffen werden, zu beschäftigen und dem Grundanliegen, dem Gegenteil von Zerstörung, nämlich der Heilung zuzuschreiben, wird man sehen. Oben und Unten als prägende und schlüssige Einheit kapitalistischer Wirtschaft, in der das Verhältnis des Menschen zum Menschen in jeder Form ausgedrückt ist. Dieser Ausspruch bezeichnet den Umstand, nach außen immer alles schön geordnet erscheinen zu lassen, obwohl dahinter die Unordnung lauert. Ich verwende den Begriff Oben pointierend für Reiche, für Kapitalisten und generell die Führungsspitze in unserem Lande. Den Begriff Unten analog für mittellose, kapital- und besitzlose Menschen. Es sind funktionale Begriffe, die in ihrer Kürze metonymisch das Gemeinte transportieren: Jeder versteht sofort, was gemeint ist. Belegbar sind die Begriffe Oben und Unten bereits in der Bibel durch Jakobus (1,17), der auch inhaltlich im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs anklingt und deshalb hier zitiert wird. Mit „oben“ war Gott gemeint:
„Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis.“ (Wörterbuch der Redensarten, www.redensarten-index.de 41 Einträge, 24. Februar 2008)
Das deutsche Oben verhält sich gern gottähnlich und diese Bedeutung klingt in den Begriffen Oben und Unten im Sprachgebrauch durch. Aber eben auch die Bedeutung des nach Außen Schöntun und im Inneren herrschenden Chaos – zusätzlich die Wandelbarkeit und Schnelligkeit unserer heutigen Zeit in Inszenierungen und Reinszenisierungen in der folgenden Zuweisung: Heute oben, morgen unten! In „Oben hui, unten pfui“ schillert die nicht aufgrund von Gewöhnung zu vergessene Sexualisierung heutiger Zeit und Gesellschaft: Der Markt und der Gewinn durch Sexualisierung ist gigantisch. Oben zu sein ist „geil“ – und Unten? Nicht! Oder doch? Und wenn es geil ist, Unten zu sein – was bedeutet es dann: Was spielt sich in Menschen ab und was spielt hinein, sich damit äußerlich zufrieden zu präsentieren?
Ich bin verstimmt über das Leben, wie in Deutschland nun zu leben ist. Insbesondere über die Faktenlage, wie Menschen zu Menschen stehen – oder besser, eben nicht stehen! Veränderung und existenzielle Faktenlage gleichen einem Requiem. Verkehrungen und Perversionen übertrumpfen sich gegenseitig.
Es scheint zusehends mehr Menschen zu geben, die so empfinden und entsprechende, harte Fakten, veröffentlichen. Zum Beispiel tat dies jüngst der Direktor des Düsseldorfer Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Gustav Horn, bei einer Veranstaltung für Arbeit (BA) zum Thema „Wie viel Ungleichheit verträgt das Land?“ (Ruhr Nachrichten, 11. Juni 2008, Rubrik Wirtschaft). Fazit seines Vortrages: Die Oberschicht schottet sich von der Unterschicht ab. Es wird standesgemäß geheiratet. Die Krankenschwester, die früher noch vom Arzt erwählt wurde, weicht der Kollegin. Arbeitseinsatz und Fleiß schlagen sich nicht in guten Einkommen nieder. Kapitalanleger sind Gewinner des aktuellen Aufschwungs und nicht Familien. Mein Zusatz wäre: Intelligenz und Fleiß zahlen sich für Unten nicht aus. Verlierer in der Kultur sind die Schwächsten: Dazu zählen Alleinerziehende und Kinder.
Selbst Ärzte schlagen Alarm, wie jüngst der Hartmannbund, der durch seinen Redner auf ein Bild der Gesellschaft zurückgreift, das den Menschen zu „Material“ degradiert: „Kinder und Jugendliche sind der wertvollste, nachwachsende Rohstoff“, mahnte der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe, Norbert Struck. Mehr als jedes sechste Kind in Deutschland wächst in einer von Armut bedrohten Familie auf.“ („Kinderärzte schlagen Alarm.“ In: Ruhr-Nachrichten, 21. Juni 2008) Wessen Herz will Norbert Struck mit dieser Metapher erreichen? Das der Wirtschaft, die Menschen nicht mehr als Menschen wahrnehmen können? Dieses Bild erinnert an Materialschlachten. Es erinnert daran, wie Menschen im Krieg als Material eingesetzt wurden. Das lässt die Frage stellen, ob wir in Kriegszeiten leben. Auf diese Frage wird im vorliegenden Buch eingegangen. Was kommt von Oben nach Unten für treue Dienste, Zusammenhalten und Einhaltung gesellschaftlicher Regeln und pünktliches Steuerzahlen zurück?
Inzwischen ist es quasi zum sozialen Auftrag geworden und gehört zum guten Ton, die Auswirkungen der Globalisierung beherzt oder mit kritischem Tenor mit Oben und Unten zu benennen: Die scharfen Kanten der Kritik an der Ungerechtigkeit und Frechheit, mit welcher sich die Wirtschaft immer weiter bereichert und die Politik diese Ökonomie letztendlich stützt, sind inzwischen von Sand und Wind des öffentlichen Diskurses abgeschliffen. Dieser Schleier der Scham wurde in den letzten drei Jahren zerrissen. Oben und Unten sind einer Normalität gewichen, mit der jeder umzugehen hat. Kapital- und Besitzverhältnisse blieben unangetastet – Gewinn Oben und Verarmung Unten steigen weiterhin. Es fehlte noch, dass Armut und Verarmung als neues Designermodell des Spätkapitalismus ausgeschrieben wird.
À la: „Es geht noch ein bisschen billiger, einfacher und überlebenspraktikabler – Sie werden schon sehen! Derjenige, der es schafft, noch billiger zu leben, bekommt den ersten Preis!“ Denn, wir haben vorher daran verdient, wird nicht gesagt.
In diesem Klima aalen sich Debatten um Sicherheit hier und Freiheit da in den sonnenbeschienenen Seen Oben. Die Politiker winken mit demokratischen Fahnenmasten und leiten Menschen sicher nach Unten – und beteuern das Gegenteil: Es geht bald wieder aufwärts! Unten weiß man offenbar die Realität besser einzuschätzen: Man weiß nun, wo man mit diesem guten, alten Glauben gelandet ist.
In diesem vorliegenden Buch sollen Phänomene zusammengetragen und Hypothesen gebildet werden, wieso man in Deutschland so lebt. Selbstwert und Mehrwert werden als sich in der Gegenwart ausschließende Ziele dargestellt. Hat meine Generation nicht genügend Fragen an die Eltern gestellt und die Antworten emotional und verstandesmäßig nicht folgerichtig eingeordnet, dass das Gros der Menschen in Deutschland sich immer noch so unterordnungsbereit zeigt? Oder waren da gar keine Antworten? Und wenn keine Antworten da sind, wäre zu fragen, warum nicht? Wo ist das Leben verloren gegangen? Denn Leben hat immer etwas damit zu tun, Fragen zu stellen, um ein bisschen weiter in der (emotionalen) Erkenntnis über das Leben zu kommen, als man bisher gekommen ist. Diese gestattet man sich Oben seit Jahrzehnten und findet immer wieder die Nadelöhre, um doch noch an den Profit zu kommen, der das schöne Leben weiter garantiert.
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