Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin. Isolde Martin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Martin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737507196
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       In einem anderen Traum lag ich bäuchlings auf einem Steg, der über Wasser führte. Es schien das Meer zu sein. Es war ein schönes Bild und die Luft war angenehm warm. Im Wasser schwammen mehrere Haie vorbei und machten mir Angst. Diese Szene träumte ich, so glaube ich, bevor ich im Aquarium des Zoos in Sydney echte, lebende Haie sah.

      Mein Verlobter hatte damals ein Zitat entwickelt, welches er auch heute noch gerne anwendet, wenn die Situation danach ruft: Man kann meine Frau aus Bayern rausnehmen, aber nicht Bayern aus meiner Frau. Die folgenden beiden Träume scheinen dies zu bestätigen:

       Ich befand mich in bayerischem beziehungsweise deutschem Nadelwald. Mit einem Lift fuhr ich zu den Ästen der Bäume hoch. Als sich die Tür des Liftes öffnete, musste ich auf eine Hängebrücke, die sich hoch oben zwischen den Bäumen erstreckte. Sie bestand aus Ästen der Nadelbäume und fing an zu schwanken, als ich meinen Fuß darauf setzte. Durch die Äste hindurch konnte ich den Waldboden unter mir sehen. Angst packte mich und ich entschied, diese Brücke nicht zu überqueren.

      Dieser Letzte der vier Träume folgte mir in meinem Gedächtnis durch die Dekade, denn immer wieder schien er sich in meinem wirklichen Leben zu bestätigen:

      Das Land war mit glitzerndem Schnee bedeckt. Der Himmel war azurblau, ohne eine Wolke. Ich fuhr auf Skiern einen sehr steilen Abhang hinunter, der in einer schmalen, rinnenähnlichen Mulde endete. Eine Menge Geschwindigkeit war notwendig, um den gegenüberliegenden, ebenso steilen Hang wieder hinaufzukommen. Ich schaffte es beinahe, aber eben doch nicht ganz, sodass ich im 'Grätschschritt mühsam die letzten Meter bewältigen musste. Oben angekommen, präsentierte sich das Land flach und wunderschön, schneebedeckt und mit sonnigem, blauem Himmel. Schneekristalle funkelten wie Diamanten. Rechter Hand stand ein Haus im alpenländischen Stil. Ich entschied, an ihm vorbei und in die blaue, unbekannte Ferne zu fahren.

      Oftmals fühlte ich, dass dieser Traum sich immer und immer wieder bewahrheitete. Wo immer ich auch gewesen sein mag in der Welt, so besuchte ich auch immer wieder meine bayerische Heimat. Entfernung und Finanzen bestimmten die Intervalle von meist ein oder zwei Jahren. Bei jedem Besuch wusste ich, dass ich wieder abreisen würde. Die unausweichliche Frage, besonders von meiner Mutter, wann ich denn dableiben würde, war mir immer höchst unangenehm. Die Antwort, die sie und die anderen Familienmitglieder hören wollten, konnte ich ihnen nicht geben.

      Die meisten Australier hatten uns mit offenen Armen und vielen Einladungen empfangen. Sie blieben weiterhin hilfsbereit und tolerant. Letzteres hat sicherlich den Prozess meiner Anpassung ans australische Leben gefördert. Irgendwann fühlte ich mich aufgenommen und ein Gefühl der Sicherheit kehrte zurück. Aber, wie man so sagt: Nichts ist perfekt. Unvorhergesehene Dinge geschahen und störten meinen fragilen Frieden sehr leicht.

      Als an einem Abend mein Verlobter nach Hause kam, konnte ich an seinem Gesicht ablesen, dass etwas vorgefallen war. Er erklärte: "Heute Morgen war ein Zettel an meiner Bürotür befestigt, auf dem stand Yankee go home." Einer der vier Partner der Firma erfuhr von der Sache und entschuldigte sich bei meinem Verlobten. Dieser sprach nie wieder davon, nach dem Motto: Es gibt immer einen, versuchten wir die Provokation zu ignorieren. Im Stillen jedoch argwöhnte ich, ob die freundliche Einladung an der Bürotüre nicht maßgeblich daran beteiligt war, dass mein Verlobter sich um einen Studienplatz für sein Masters-Degree bei seiner alten Uni in Berkeley, Kalifornien bemühte.

      Aber dies blieb nicht der einzige Vorfall. Sehr bald nach unserer Ankunft in Sydney wurden wir von einem Ehepaar in ihr Heim eingeladen. Es lag weit außerhalb der Stadt, fast schon im Busch. Es war eine warme Frühsommernacht und die Grillen zirpten sehr laut. Ich genoss die exotische Romantik. Am Ende eines wohlschmeckenden Abendessens mit angeregter Unterhaltung, wandte sich die Gastgeberin an mich. Sie sagte mir, dass ihre Mutter Jüdin wäre, aus Deutschland hätte fliehen müssen und nie wieder dorthin zurückgehen möchte. Den letzten Punkt wiederholte sie mehrere Male. Dabei zeigten ihre Mundwinkel scharf nach unten. Ihre Augen funkelten so aggressiv, dass sie mich beinahe das Fürchten lehrte. Obwohl ich die Tragödie, die hinter ihren Worten stand, natürlich nachvollziehen konnte, so traf mich ihr offensichtlich vorhandener Hass bezüglich des Zweiten Weltkrieges doch unvorbereitet. Es schien, als ob sie die Gelegenheit, eine Deutsche in ihrem Haus zu haben, benutzen wollte, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Auf all meinen europäischen Reisen hatte ich keine solche Erfahrung machen müssen. Somit wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. So hörte ich denn einfach zu und kam zu der Erkenntnis, dass ich für diese Frau ihre persönliche Geschichte live verkörperte. Später, als ich mit meinem Verlobten über das Verhalten unserer Gastgeberin sprach, erinnerte ich mich an einen Trost, den die Australier gerne spendeten: Du wirst dich daran gewöhnen! Aber diesmal musste ich sie Lügen strafen.

      Ein anderes, völlig unerwartetes Gefühl, manifestierte sich allmählich mehr und mehr. Als ich es schließlich erkannte, schwankte ich zwischen Annahme und Ablehnung. Jeder, nicht nur Psychologen, weiß, dass sich Platzangst beziehungsweise Klaustrophobie auf schmale, enge, womöglich geschlossene Orte bezieht. Genau dieses Phänomen schien ich auf diesem riesigen Kontinent mit seinen weiten Flächen im Landesinneren zu fühlen. Jahre später noch versuchte ich Laien und Psychologen zu erklären, dass Platzangst allein von einem Gefühl des Eingeschlossenseins oder Gefangenseins resultieren kann. Und dazu braucht es nicht unbedingt einen schmalen, kleinen Ort.

      Jene Tage der Jahre 1971-1972 kannten noch kein Internet, keinen PC oder E-Mail, wodurch täglicher Kontakt mit Angehörigen auf fernen Kontinenten möglich gewesen wäre. Es gab keine Satellitenantennen auf Dächern, womit man heimatliche Fernsehsender hätte empfangen können. Briefe, die über drei Kontinente hinweg reisen mussten brauchten lange, sogar mit Luftpost. Zeitungen und Zeitschriften von zu Hause waren drei Monate alt, wenn sie bei mir ankamen. Diese Zustände bewirkten, dass ich mich langsam vom zentralen Fluss des Geschehens, der für mich natürlich in Europa lag, ausgeschlossen fühlte. Sydney war lebhaft genug, aber für mich lag das Zentrum der Erde im Norden, wo ich aufgewachsen war.

      Ich entwickelte eine gewisse Wachsamkeit, nicht ausgelassen oder übergangen zu werden. Eine zugegebenermaßen etwas unrealistische Angst, in Australien festzusitzen, wuchs. Folglich wurde der Wunsch das Land zu verlassen immer stärker. Als Gegenmaßnahme für diese Entwicklung hielt ich mir all die Dinge, die ich hier schätzte und liebte, vor Augen: das wunderbare Klima, die schönen, allzeit von Haien besuchten Meeresbuchten und Strände, die bunten Vögel, der entspannte Lebensstil, das freundliche Wesen der Australier, die exotische Umkehr der Jahreszeiten, die Kunst der Aborigines. Sie alle waren auf meiner Positivliste. Aber mit der Zeit verloren die Argumente an Einfluss und machten dem Gefühl Platz, zu weit weg und draußen zu sein. Last, but not least: Flugtickets für Langstrecken kosteten eine Menge Geld, welches erst erspart werden musste.

      An einem jener Tage kam ich mit einem etwas älteren Mann zu ins Gespräch, irgendwo in einer Straße der Stadt. Auch er stellte mir die Frage aller Fragen: "Wie finden Sie Australien?" Er schien ein warmherziger Mann mit einer ehrlichen Art. Ich vertraute ihm und erzählte ihm unter anderem von meinen klaustrophobischen Ängsten. Er war fassungslos. "Aber das ist ein riesiges, weit offenes Land!", meinte er. Ich erklärte ihm, dass Deutschland wenig weit offenes Land besaß und solche gewaltigen Entfernungen wie in Australien für mich etwas entmutigend waren. Da er so nett und ernsthaft war, erwähnte ich das zusätzliche Gefühl von down and out (dieses Gefühl downunder nichts mehr von der Welt mitzukriegen) nicht. Aber er akzeptierte meine Einstellung. "Sie verlassen uns dann", sagte er, "und dann werden Sie nach Australien zurückkommen." Triumphierend und überzeugt schaute er mich an. Ich räumte diese Möglichkeit ein, denn wir hatten noch nicht einmal einen Bruchteil dieses faszinierenden Kontinents gesehen. Ein Bisschen sollte dieser Mann auch recht behalten. Die Erfahrung Australien blieb bis heute in meinem Gedächtnis. Ich war sozusagen mit diesem Land noch nicht fertig, als ich es verließ. Zusammen mit meinem Mann und unserem Sohn kam ich 31 Jahre später nach Brisbane und auf Hamilton Island, vor dem Great Barrier Reef gelegen. Jahre später würde ich immer noch gerne Australien besuchen, vielleicht auch, weil ich dort ein sehr signifikantes Jahr meines Lebens verbracht hatte. Mein Mann und ich begannen dort unser gemeinsames Leben, weit weg von jeglicher Familie. Es war der Anfang einer wunderbaren Verbindung, die mein inneres Wachstum gefördert