Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin. Isolde Martin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Martin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737507196
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schien am Werk zu sein. Wenn ich heute diese Stunde, bevor unser Flug aufgerufen wurde, in mein Gedächtnis rufe, fühle ich immer noch den Schmerz der Trennung, vor allem den, den ich meiner Mutter zugefügt habe. Ich erinnere mich, dass ich meinen Freunden dankbar war, meine Mutter nach Hause, in eine nun leere Wohnung, zu begleiten.

      In Frankfurt hatten wir einige Stunden Wartezeit hinter uns zu bringen, bis der Flug nach Sydney startete. Dort schließlich ließ sich meine Angst nicht mehr verdrängen, sie machte sich stark bemerkbar. Zweifel ob der Enormität meines Unternehmens verunsicherten mich plötzlich. Diese hatten jedoch nichts mit meinem Verlobten zu tun. Mit ihm fühlte ich mich nach wie vor sicher. Meine Überlegungen, wie er sich in einem Land, das ihm weit weniger fremd vorkommen musste als mir, verhalten würde, waren von abstrakter, intellektueller Natur. Aber die Geborgenheit meine Familie, mein Land und alles was mir vertraut war zu verlassen, stellte ich nun infrage. Für einige Sekunden dachte ich sogar, dass ich noch umkehren könnte. War ich denn verrückt, meine soziale und physische Umgebung, die ich so gut kannte, aufzugeben? Stattdessen würde ich zur Ausländerin werden, in einem unbekannten Territorium, mit Sprachschwierigkeiten, mit neuen, unbekannten sozialen Regeln und Bedingungen. Würde ich auch dort die Gesichter und Gesichtsausdrücke der Menschen einschätzen können, die Semantik ihrer Sprache verstehen? Aber das Fernweh, die Sehnsucht exotische Plätze zu sehen und der Wunsch bei diesem Mann zu bleiben, waren sehr stark. Alle meine Bedenken und Ängste wurden von diesen beiden Punkten überstimmt. Zusammen wollten wir diesen Kontinent, der so weit weg war, erfahren.

      Es war mir klar, dass die Gefühle, die wir füreinander hegten, dort getestet werden würden. Beide würden wir Ausländer sein. Weder Familie noch Freunde konnten uns mit ihren Meinungen, Ratschlägen und Kommentaren helfen oder beeinflussen. Wir hatten nur uns. Aus Sicht der Existenzialisten war ich alleine. Vielleicht war es dieser rationelle Teil meines Denkens, der bewirkte, dass ich das Geld für ein Rückflugticket mitgenommen hatte. Es war auch Fakt, dass wir die One-Way-Tickets, die die australische Regierung für uns gesponsert hatte, zurückzahlen mussten, sollten wir vor Ablauf von zwei Jahren das Land wieder verlassen. Mein Verlobter hatte keinen solchen Rückhalt. Ich bewunderte seinen Mut und seine Zuversicht, dass alles gut gehen würde.

      Dieser Flug von Frankfurt nach Sydney dauerte insgesamt 26 Stunden, einschließlich der Zwischenstopps in Athen, Karachi, Bangkok und Singapur. Wir flogen durch zwei 6-Stundentage und zwei 6-Stundennächte. Am Ende hatte ich meine Orientierung in der Zeit verloren. Wann musste ich meine Pille schlucken? Mein Partner half mir zu rechnen, die Stewardess empfahl eine 24-Stundenuhr.

      Nach dem Start in Singapur ließen Aufregung und Erwartung mein Herz schneller schlagen. Endlich, nach Stunden über dem Meer, kam Land in Sicht. Wir klebten beide am Fenster. Langsam färbte sich der Kontinent unter uns immer rötlicher und blieb so für die nächsten drei Stunden. Außer einem gelegentlichen einzelnen Haus in der Wüste, gab es weder Orte noch Straßen zu sehen. Das muss das berühmte Outback sein, dachte ich.

      Mein Verlobter neben mir war vollkommen still. Ich kann mich an keine Kommentare von ihm während dieser Flugstrecke erinnern. Jahre später gestand er, dass er sich jede Minute schlechter und schlechter fühlte. Oh du meine Güte, was habe ich getan, habe er gedacht. Die rote, leere Wüste schien kein Ende nehmen zu wollen.

      Allerdings kamen die positiven Lebensgeister angesichts des Grüns der Küste schnell wieder zurück. Sydney, mit seinen Hochhäusern, seinem wunderschönen Opernhaus, seiner eindrucksvollen Hafenbrücke kam in Sicht. We are ready! Lasst uns landen und uns hineinstürzen.

      Nach der Passkontrolle winkten uns die Zollbeamten im Warenzollbereich einfach durch. Ich war fast enttäuscht (wenig wusste ich damals über die Menschen vom Zoll). Konnten diese beiden Männer denn nicht sehen, dass ich gerade dabei war, einen monumentalen Schritt in meinem Leben, in ihr Land zu machen? Schließlich war dies eine Sache von gewaltigen Veränderungen für mich: Ich wechselte von der nördlichen in die südliche Hemisphäre der Erde, vom Herbst in den Frühling, von Rechts- auf Linksverkehr, von der deutschen zur englischen Sprache, von Bekanntem zu Unbekanntem, vielleicht sogar von Sicherheitsgefühl zu Unsicherheit und, zumindest für die nächste Zeit, von einem Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Gefühl des Außenseiterseins.

      Diese Überlegungen und Erwartungen hatten sich windmühlenartig in meinem Kopf gedreht und mich so auf die Herausforderungen, die da kommen sollten, vorbereitet. Aber die allmähliche Erkenntnis, dass mit dem Sprachwechsel eine neue Seite meines Verlobten zutage trat, die ich noch nicht kannte, überraschte mich doch. Englisch ist seine Muttersprache, stellte ich in Gedanken fest, als ob ich es noch nicht gewusst hätte. Er klang sicher und nicht so zögerlich, wie in der deutschen Sprache. Seine Rede und Rhetorik war flüssig. Als wir am ersten Tag mit einem Stadtbus in das Zentrum fuhren, ging er voran und übernahm die Führung. Staunend beobachtete ich ihn. Es schien, als ob der Wechsel von seinem bescheidenen Deutsch in seine Muttersprache, beziehungsweise die australische Version, eine Art Metamorphose ausgelöst hätte. Vielleicht hatte die Erfahrung mit seinem Professor für deutsche Sprache auf der University of California, Berkeley, als ein mentaler Bremsklotz gewirkt. Anderweitig nämlich hatte mein Verlobter ein durchaus sehr liberales Verständnis in linguistischen Dingen. Mit schalkhaftem Grinsen hatte er mir von einem Angebot seines Professors erzählt: Er versprach seine Note eine Stufe zu erhöhen, wenn er sich nicht noch einmal für einen Deutschkurs eintragen ließ. So waren wohl die 18 Monate in Deutschland eine Mischung aus dem Genuss, die akademische Art Fremdsprachen zu unterrichten als uneffektiv darzustellen, und dem Ertragen des Spottes wegen der Fehler, die er machte. Sein Konversationsdeutsch hatte sich jedoch durch Zuhören und Sprechen und dem Ignorieren der Lacher sehr verbessert. Sein Professor hätte sich vielleicht sehr gewundert. Am Ende ist linguistischer Mut wohl ein erfolgreiches Werkzeug zum Erlernen einer Fremdsprache.

      DER FÜNFTE KONTINENT

      Gleich nach unserer Ankunft in unserem Hotel in Sydney schickten wir ein Gut-angekommen-Telegramm an meine Mutter, um ihr wenigstens diese Sorge zu nehmen. Auf unserem Weg zur Post erhielt ich die erste Lektion der Überlebensstrategien in diesem Land des Linksverkehrs: Nicht erst nach links und dann nach rechts schauen, sondern umgekehrt, erst rechts, dann links. Mein Gehirn an diese Änderung zu gewöhnen, sollte ein Kampf werden, der die gesamte Dauer unseres Aufenthaltes in Australien anhielt.

      Ich gewöhnte mich wenig an den Linksverkehr und hatte einige Male Glück, nicht überfahren zu werden. Die verlässlichste Strategie meinerseits bestand darin, erst in die Richtung zu blicken, die mir falsch erschien. Es gab ein Kaufhaus, welches ich gerne mochte und häufig auf dem Heimweg von meinem Arbeitsplatz besuchte. Wenn ich dieses Geschäft verließ, testete ich meine Theorie: Erst ging ich ein paar Meter zur doppelt falschen Bushaltestelle, also die für den Rechtsverkehr. Dort überquerte ich dann die Straße zu der Haltestelle die ich wirklich brauchte, um meinen Bus zu erwischen. Aber auch als ich dann in die Richtung unserer Wohnung fuhr, hatte ich die halbe Strecke lang das Gefühl, dass es falsch war. Allmählich begriff mein Gehirn, dass ich dem Gefühl falsch nachgehen musste, um richtig zu liegen.

      Aber nicht nur der Verkehr schien mir paradox. Auch das Meer in all seiner Schönheit war nicht dort, wo ich es gewöhnt war. Wenn jemand die ersten 26 Jahre des Lebens die Nordsee im Norden und den Atlantik im Westen wusste und nun der Pazifik im Osten lag, war das eine höchst verwirrende geografische Referenz der Orientierung. Wiederum weigerte sich mein unflexibles Gehirn diese Tatsache zu integrieren und schickte mich deshalb häufig auf Irrwege in der Stadt. Ich bewunderte meinen Verlobten, der keinerlei Orientierungsprobleme zu haben schien und deshalb zum Beispiel nie vor ein herannahendes Auto lief.

      Einige Tage nach unserer Ankunft erschien er wie selbstverständlich mit einem Mietauto. Er erklärte, dass unsere Wohnungssuche wesentlich einfacher und komfortabler sei, wenn wir uneingeschränkte, vom städtischen Bussystem unabhängige Mobilität besäßen.

      "Du möchtest mit diesem Auto fahren?", fragte ich.

      "Uhm", antwortete er.

      "Jetzt?"

      "Yep!"

      Er setzte sich ans Steuer auf der rechten Seite des Autos, schaltete mit der linken Hand, begleitet von gelegentlichen Ups-Ausrufen. Humor