Steintränen. Manja Gautschi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manja Gautschi
Издательство: Bookwire
Серия: Steintränen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750218727
Скачать книгу
Leine zieht, nicht weiss was er tun soll. Der erzogenen darf überall hin mit, der unerzogene würde stören, wird zu Hause gelassen, ausgegrenzt. Also erzieht man ihn. Und dafür muss man manchmal durchgreifen, gegen dessen Willen. Das gefällt ihm nicht immer. Aber schlussendlich geht es ihm am Ende besser. Oder?“

      „Mag sein, aber soll das der Grund sein um loszurennen und gleich alle wilden Tiere gegen ihren Willen zu erziehen?! Nein, nein. Hier geht es wohl eher um ein paar wenige, die nach Geld und Macht greifen. Koste es was es wolle! Und wenn Ihnen Politik nicht wichtig ist, dann könnten Sie mich auch gehen lassen und die Politik anderen überlassen. Helfen Sie mir hier raus.“

      Dieser Gedankengang war stimmig. Das musste Sven zugeben. Er stutze. Meinte dann „Sehen Sie, dass ist ein Grund, weshalb es Mundfesseln gibt.“ er lächelte „Was zum Geier gibt es da zu lachen?“ „Irgendwie bin ich erleichtert.“ „Erleichtert?!“ „Ja, erleichtert. Denn bei Ihrem Gespräch mit Marcel, also, Commander Ragor, war ich nebenan und kam nicht umhin es mitanzuhören. Nun bin ich positiv überrascht und erleichtert, dass Ihr Vokabular mehr als nur Schimpfworte und Flüche umfasst. Ich begreife sogar, weshalb man Sie aus der Gesellschaft sperren wird. Sie als ‚besonders’ systemgefährlich einstuft. Hinter Ihrer rauen Fassade verbirgt sich ein kluger Stratege mit einer unerwarteten Wortgewandtheit. Ich bin sicher, sie haben die Fähigkeit, Menschen für eine Sache zu begeistern. Schade so jemanden gegen das Terra Sonnensystem zu verlieren.“

      Sven hob die Decke über Korons Bein, fing an den Verband zu öffnen. Der Verband war mehr eine Art Schiene, die in der Mitte in zwei Teile getrennt werden konnte. Zum Teil klebte das darunterliegende Gazenmaterial an der riesigen Naht, die vom Knie bis zum Fuss hinunterreichte.

      „He!“ Koron zuckte, denn es zwickte, als Sven mit etwas Druck die blutenden Stellen der Naht reinigte. „Entschuldigung. Aber wenn’s geht, bitte still halten.“ bat Sven. „Was zum Teufel ist das denn?!“ fragte Koron nach, als er die Naht sah. Es sah hässlich aus. Und so schwer hatte es ihn unmöglich getroffen!

      „Schien- und Wadenbein sind zerbrochen. Ich musste sie zusammenschrauben. Und das Kniegelenk hatte sich völlig verschoben. Die Sehnen sind zum Glück nicht durchgerissen, aber anständig überdehnt. Das musste ich richten. Und der Knochen, der Oberschenkel, hat einen Haarriss bis zum Gelenk. Sie dürfen es vorerst nicht belasten, sonst laufen Sie Gefahr, dass er längs zerbricht. Darum diese grosse Narbe und die Fussfesseln. Damit Sie das Bein ruhen lassen.“

      „Warum flicken Sie mich überhaupt zusammen. Wenn man mich ohnehin aus dem Weg räumen wird? Krankes Gesindel, verdammt.“ stellte Koron seine nächste Frage. Sven sah Koron an und bemerkte die Angst in Korons Worten, trotz der Flucherei. Die Angst vor seiner angekündigten Zukunft, offensichtlich. „Sie haben Angst?“ „Natürlich habe ich Angst, nur ein Idiot hätte in der Situation keine Angst. Wehrlos einer beschissenen Zukunft entgegenzusehen, sich Sorgen um seine Leute zu machen, nicht zu wissen wie es ihnen geht. Ein drohender Krieg, der Freunden das Leben kosten kann und selbst hier“ er zog an den Fesseln. Sven drückte aufs Bein, hielt es fest „Bitte, nicht bewegen!“

      Die beiden Männer sahen sich an. „Nur grosse Männer können offen zu Ihrer Angst stehen. Meinen Respekt.“ antwortete Sven „Und ich verstehe Sie. Nur, im Moment können Sie überhaupt nichts tun. Das Einzige jedoch, womit Sie MIR helfen könnten, wäre mit dem Admiral zu kooperieren. Denn, wie gesagt, ich bin Arzt. Sie fragten nach Ihren Leuten und ich muss gestehen, das Vorhaben 13 Ihrer Leute dem Tod zu überlassen, gefällt mir nicht. Soldaten die im Kampf fallen, gehört quasi zum Berufsrisiko. Aber Gefangene, die bereits verloren haben einfach so zu richten ist nicht richtig. Wir durften Ihre Leute alle untersuchen, soviel dazu, sie sind alle wohlauf, mehr oder weniger. Nichts Dramatisches.“ „Was soll das bedeuten ‚mehr oder weniger’?“ fragte Koron dazwischen „Die 13 Ausgewählten durften wir ‚nur’ untersuchen und mit Schmerzmitteln versorgen, ihre Verletzungen aber nicht behandeln, weil es sich ‚ohnehin’ nicht lohne. Wenn Sie Ihre Ansicht vielleicht nochmals überdenken und kooperieren würden, wäre es mir als Arzt wohler und ich und mein Team könnten die Leute behandeln, wie es sich gehört.“

      „Pah! Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen?“ gab Koron zurück „Ich frage mich, wer hier eine Mundfessel verpasst kriegen sollte.“ Sven lächelte, Koron fragte nach „Wieso lachen Sie? Halten Sie sich für so viel besser?“ Sven schüttelte den Kopf „Nein, ganz und gar nicht. Und das hier ist auch nicht das erste solcher Gespräche, das ich führe. Können Sie mir glauben. Eine Antwort wie die Ihre erhalte ich allerdings nur sehr selten. Nicht viele erkennen meinen Versuch Sie zu beeinflussen auch als solchen. Und geben es sogar noch preis, dass sie es merken.“

      Unterdessen hatte Sven die Wundversorgung und Kontrolle des Beins beendet. Kam nun auf die andere Seite, wechselte die sterilen Handschuhe um den Blasenkatheter zu kontrollieren. Er hob die Decke an. „Muss das sein? Verflucht nochmal. Macht mich doch einfach los und erspart mir diese Demütigung. Verdammt!“ „Tut mir leid. Nein. Bis nach Seytang wird der Katheter wohl drinbleiben müssen. Aber ich könnte warten bis ihr sediert seid, dann würdet Ihr es nicht mitbekommen.“ „So eine Scheisse!“ Koron schloss die Augen, ballte die Fäuste und liess Sven seine Arbeit tun, denn die Vorstellung, man würde an ihm herumfummeln, während er betäubt ist, gefiel ihm noch weniger.

      „An Tagen wie diesen bin ich froh, Arzt zu sein. Dass ich es mir leisten kann, an meinen Ansichten einfach festzuhalten. Es hat keine Konsequenzen. Nicht so wie Sie.“

      Sven wechselte nun zur Infusion an der Hüfte, die er vorsichtig anfing zu entfernen. Tat verdammt weh! Koron biss die Zähne zusammen. Wollte aber doch wissen wozu das gewesen war. Und Sven erklärte „Ein Fremdkörper hatte eine Wunde bis auf den Knochen verursacht. Wir entfernten die übriggebliebenen Teile und applizierten für 48 Stunden direkt Antibiotika und Schmerzmittel an den verletzten Knochen. Von jetzt an sollte das, was Sie über die Infusion am Arm erhalten aber ausreichen. Sieht soweit alles gut aus.“

      „Wenn ich mit euch kooperiere, dann wird das zu Ungunsten der Menschen von Steinwelten sein. Die werden darunter leiden müssen. Noch mehr Tote. Wollen Sie das wirklich? Als Arzt?“ argumentierte Koron. „Oder es hilft den Konflikt schneller zu beenden und es entstünde weniger Schaden. Auch eine Möglichkeit. Finden Sie nicht?“ „Ach Scheisse! Verdammte.“ gab Koron weitere Schimpfwörter zum Besten. Seine Situation war wirklich mies. Mieser am miesesten. Mal abgesehen von seiner persönlichen Misslage, hier festgebunden, auf diesem ScheissDreckskrankenbett, ausgeliefert und wehrlos sich an allen, sogar den intimsten Stellen, anfassen lassen zu müssen, war diese, von ihm geforderte, zu treffende Entscheidung die Wahl zwischen ‚beschissen’ und ‚beschissen’. Und das ohne die Möglichkeit es mit seinen Leuten besprechen zu können wie sonst. Diese perfiden Arschlöcher wussten genau, was sie taten.

      Egal wie er sich entscheiden wird, er wird sich schlecht dabei fühlen und es wird gegen Freunde sein. Er wird es sich für den Rest seines Lebens nicht verzeihen können. Wird für den Rest seines Lebens mit niemandem darüber reden können. Eine schlimmere Bestrafung konnte er sich nicht vorstellen. Sein Hass auf das Terra Sonnensystem wuchs gleichermassen wie seine Angst vor seiner nahenden Zukunft.

      4 - Glauben & Vertrauen - Boris & Joret

      Als Stadtmeister von Rupes war es eine von Boris Aufgaben, die Dörfer und Städte Rupiens zu besuchen. Sich den Bürgermeistern, Stadträten, Gemeinderäten und so weiter vorzustellen. Wo es hatte, die alten verzierten Gebäude zu aktivieren und das weitere Vorgehen zu besprechen und erläutern.

      Alle nach Rupes einzuladen um es allen gleichzeitig und nur einmal erklären zu müssen, wäre möglich gewesen, sicher, doch es hätte einerseits das Risiko in sich geborgen, gleich alle ‚Führer’ auf einmal ausschalten zu können und andererseits wären die vorhandenen Gebäude nicht aktiviert worden. Boris hätte