„Echt? Ist das 'n Kinderficker?“
„Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir lebhaft vorstellen, und ich denke, andere tun das auch. Darum hat den natürlich keiner gewählt.“
„Aber warum kandidieren denn keine vernünftigen Leute für diesen Posten?“
„Viel Arbeit, kaum Entlastung und dabei die ganze Zeit im Schatten des großen Sup. Sowas machen nur Idioten oder Kontrollfreaks.“
„Kontrollfreaks sind Idioten.“
„Eben.“
Die ersten Kinder wurden abgeholt, die übrigen nahmen das Mittagessen zusammen ein.
Am Nachmittag wurde Regina Heuer in der Gruppenbetreuung nicht mehr gebraucht. Es gab einiges abzuarbeiten und dann musste sie sich ja auch noch auf die MAV-Sitzung am morgigen Freitag vorbereiten. Sie rief Jens Carstensen an, um die gemeinsame Strategie abzusprechen und um zu vermeiden, dass ihr Informationen fehlten, die sie längst hätte bekommen können. Sie plante, pünktlich Feierabend zu machen. „Einfach mal ein ganz normaler Tag, bevor der Wahnsinn morgen weiter geht.“, dachte sie und wandte sich seufzend ihren Unterlagen zu.
14. Minden – In den Bärenkämpen 14
Was war das für ein Tier, das da im Halbdunkel auf sie zu gekrochen kam? Eine Ratte? Sie spürte Panik in sich aufsteigen, aber sie konnte sich nicht rühren. Das Tier kam näher, sie sah in das Gesicht eines Nagers, aber der sich daran anschließende Körper schien nicht zu enden. Wie eine riesige Würgeschlange wand er sich auf sie zu, glitt nun unaufhaltsam und zappelnd über ihren Körper. Sie fühlte das Gewicht des Tieres schwer auf sich lasten, litt nicht nur unter Ekel sondern unter Todesangst, aber sie konnte noch nicht einmal schreien. Immer wieder kroch der Riesennager über ihre Beine, ihren Schoß, ihren Bauch, ihre Brust, und sie bekam kaum noch Luft. Dann war da plötzlich so ein schrilles Geräusch. Ihr Herz raste; war das alles nicht schon schlimm genug? Was passierte denn jetzt noch? Wieder dieses Geräusch, es wurde heller und der Schlangennager war verschwunden. Einen Moment lang war sie verwirrt, doch dann breitete sich tiefe Erleichterung in ihr aus. Sie war in Sicherheit, in ihrem Bett, in ihrer Wohnung und es gab keinen zappelnden, schwergewichtigen Schlangennager. Aber das schrille Geräusch war immer noch da. Die Türklingel! Sie schälte sich aus den nass geschwitzten Laken und wankte zur Wohnungstür. Sie drückte auf die Sprechanlage und fragte: „Wer ist da bitte?“
„Paul-Gerhard“, lautete die Antwort. Sie drückte auf den Türöffner und riss die Wohnungstür auf. Ihr Nachthemd klebte nass und säuerlich riechend an ihrem Körper, die Haare hingen teils strähnig, teils verfilzt an ihrem Kopf herunter und rochen ranzig. Als sie die Schritte ihres Freundes auf der Treppe hörte, rief sie: Setz' dich schon mal ins Wohnzimmer, ich muss nur noch schnell unter die Dusche.“
Sie flitzte ins Bad, drehte das Wasser auf, und während der marode Durchlauferhitzer die Dusche auf Betriebstemperatur brachte, schrubbte sie sich die übel riechenden Beläge von Zähnen und Zunge. Dann sprang sie unter die Dusche, shampoonierte sich kurz ein, spülte alles wieder ab und stand nach drei Minuten tropfnass auf dem Teppich, drehte die Haare in einen Handtuchturban und sich selbst in einen Badeschal. Sie musste sich einen Moment auf die Toilette setzen, damit die tanzenden, schwarzen Punkte vor ihren Augen verschwanden. Dann huschte sie in ihr Schlafzimmer, zog frische Wäsche, eine saubere Jeans und ein Sweatshirt an, öffnete das Fenster und schlug die Bettdecke zurück. Später würde sie die Bettwäsche wechseln und endlich wieder in sauberen, frischen Laken schlafen. Dann träumte sie hoffentlich nicht mehr von Rattenschlangen, diesen lebenden Hinweisen auf mangelnde Hygiene.
Es war 12.45 Uhr, als sie frisch geduscht und angekleidet ihre Verabredung begrüßte. Sie deuteten eine Umarmung an, und Karin Seliger entschuldigte sich: „Du, ich habe ganz schlecht geschlafen und dann heute morgen wohl den Wecker nicht gehört. Du hast mich mit deinem Klingeln aus einem Alptraum gerettet.“
„Was denn für ein Alptraum?“
„Irgendein Höllenwesen ist über mich hergefallen, ich will da lieber gar nicht mehr dran denken.“
„Kannst du denn jetzt überhaupt Mittag essen oder willst du lieber nicht erst einmal frühstücken?“, erkundigte sich Paul-Gerhard.
„Ach, lass uns doch zu Enzo gehen. Da kannst du Mittag essen und ich bestelle Latte Macchiato und ein Brötchen. Oder hattest du schon was anderes geplant?“
„Nein, aber wir können auch hier bleiben und Pizza bestellen und ich hole dir gerade ein paar Brötchen vom Bäcker um die Ecke.“
„In dieser Siff-Bude willst du bleiben?“, fragte Karin ungläubig.
Paul-Gerhard sah sich um: auf dem Couchtisch stapelte sich benutztes Geschirr, Obstreste auf denen sich Drosophilas tummelten, Plastikmüll und sogar ein fleckiges T-Shirt. Überall auf den Möbeln und dem Fußboden lag schmutzige Wäsche herum, zerlesene Zeitungen, Blisterstreifen und Medikamentenschachteln, Notizzettel und halb volle Mineralwasser-Flaschen. Dabei war das Zimmer klein und wirkte trotz der spärlichen Möblierung voll gestopft. Doch Paul-Gerhard verzog keine Miene und sagte: „Ganz wie du willst. Wenn es dich zu sehr anstrengt, auszugehen, können wir gerne hier bleiben. Wenn du mal wieder raus kommen willst, können wir zu Enzo gehen oder wohin auch immer.“
„Dann zu Enzo“, sagte Karin, schlüpfte in ihre Stiefeletten, zog eine alte Outdoor-Jacke aus besseren Zeiten über, ertastete ihr Portemonnaie und sagte: „Ich wäre dann soweit.“
Paul-Gerhard erhob sich, und sie verließen die Wohnung und fuhren in die Innenstadt zu ihrem Lieblingsrestaurant.
Enzo betrieb ein nettes, kleines, italienisches Restaurant in der Mindener Altstadt. Er war außerdem in die Marktlücke Café-Bar gesprungen und musste nun eine Menge Personal beschäftigen, weil Öffnungszeiten von 8.00 Uhr Morgens bis Mitternacht von einem Familienunternehmen allein nicht aufrecht erhalten werden konnten. Hier trafen sich zwischen Fachwerk, nur teilweise verputztem Mauerwerk und dezenter mediterraner Dekoration diejenigen, die sich für die Mindener Bohème hielten: malende Kunstlehrer, belesene Allgemeinmediziner, Italien-Reisende mit Theater-Abo und Opernkenntnissen, schauspielernde Sozialarbeiter und selbsternannte Weltmusiker. Hin und wieder verliefen sich auch ein paar ganz normale Leute hierher, lobten die gute Küche und kamen wieder. Paul-Gerhard und Karin kamen auch gern hier her, nicht nur wegen der besonders guten Speisekarte und des angenehmen Ambientes, sondern vor allem wegen der Gelegenheit zu ausgedehnten Charakterstudien. Hier ließen sich vortrefflich die absonderlichsten Gestalten beobachten und belauschen, wähnten sie sich doch im geschützten Raum unter Ihresgleichen. Leider gab es auch ein paar unangenehme Theologen-Kollegen, die hier gelegentlich einkehrten, die in der Regel von ihren gleichermaßen kulturbeflissenen wie geltungssüchtigen Frauen eingeführt worden waren. Wenn Paul-Gerhard oder Karin sie schon von draußen sahen, verzichteten sie lieber auf ein Essen bei Enzo – so schlecht sortiert war die Mindener Gastronomie keineswegs.
Heute Mittag hatten sie Glück: Nur ein paar ihre Intellektualität zur Schau stellende Zeitungsleser schlürften ihre Kaffeevariationen, niemand, den sie kannten und niemand, der lästige Reden schwang. Paul-Gerhard bestellte Pasta mit frischen und getrockneten Tomaten und eine große Flasche Wasser, Karin einen Latte Macchiato und ein Tomate-Mozzarella-Brötchen.
„Hast du deine Medikamente wieder genommen?“, fragte Paul-Gerhard.
„Noch nicht.“, gab Karin zu. Ich wollte gestern Abend damit anfangen, aber dann bin ich darüber eingeschlafen. Nachts bin ich zwar mehrfach aufgewacht, aber an die Tabletten hab' ich dabei nicht gedacht. Und jetzt bist du ja da.“ Sie lächelte.
„Hattest du schon Gelegenheit, darüber nachzudenken, was du der Polizei erzählen willst, falls sie dich befragen?“, erkundigte sich Paul-Gerhard.
„Nein, bis jetzt noch nicht.“, antwortete Karin. „Was, glaubst du, werden die mich fragen?“
„Wie gut du Norbert Volkmann kanntest, wie sich die Zusammenarbeit mit ihm gestaltete, warum du arbeitslos bist und nicht