„Tja“, antwortete Ortwin Busse trocken. „Dann müsster euren Kaffee wohl selber kochen und der Pastor muss 'ne Stunde vorher die Heizung aufdrehen.“
Die Haustür quietschte.
„Muss mal wieder geölt werden.“, mahnte Karl-Wilhelm Wiebeking.
„Blödsinn“, widersprach Ortwin Busse, „hört man wenigstens, dass einer kommt.“
„Guten Abend“, grüßte Pfarrer Peter Vieregge die Anwesenden. „Ach, Karl-Wilhelm, hat Pfarrer Reimler dich eigentlich schon informiert, dass er heute Abend zu uns stößt?“
„Nein,“, antwortete Wiebeking etwas verschnupft. „Will er gleich einen Antrittsbesuch als künftiger Superintendent machen?“
Peter Vieregge lachte derb. „Das ist jetzt aber ein böser Witz.“
„Wieso Witz?“, fragte Wiebeking verärgert. „Was soll denn daran witzig sein?“
„Na ja“, versuchte der Pfarrer ihn zu beschwichtigen, „Bruder Volkmann ist noch nicht unter der Erde, da sprichst du schon von einem möglichen Nachfolger. Das hat auf mich ein bisschen zynisch gewirkt.“
„Aber Reimler ist doch bisher Assessor gewesen.“, erwiderte Wiebeking unwirsch. „Dann ist er doch jetzt erst mal Superintendent bis ein neuer gewählt ist. Die Geschäfte müssen doch weiter gehen. Die Angestellten wollen pünktlich ihr Gehalt sehen und dass ihre Urlaubsanträge genehmigt werden. Entscheidungen, die anstehen, müssen gefällt werden, sonst geht doch alles drunter und drüber.“
Vieregge zuckte mit den Schultern. Er war nicht auf Konfrontation aus. Ortwin Busse brachte sich in Erinnerung: „ich überlasse euch dann mal euren Verhandlungen. Heute Abend is' Fußball. Will ich nicht verpassen. Tschüss.“
Nach und nach trudelten die restlichen Vertreterinnen und Vertreter des kleinen neunköpfigen Presbyteriums ein und schließlich tauchte auch der Assessor Sebastian Reimler auf.
Nach einer kurzen Andacht und den üblichen Formalia gehörte die gesamte Aufmerksamkeit der Anwesenden ihrem Gast. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde trug Sebastian Reimler sein Anliegen vor: „Ich bin heute bei Ihnen aus drei Gründen. Der erste war ursprünglich nicht vorgesehen, aber der tragische Tod von Bruder Volkmann ist ja sicher allen bekannt, so ist es nun an mir, das Amt des Superintendenten kommissarisch weiter zu führen bis ein Nachfolger gewählt ist. Der zweite Grund ist ein Gespräch über das Vorhaben Ihrer Kirchengemeinde in das Konzept der offenen Kirchen mit einzusteigen. Und zum dritten geht es um die aktuelle prekäre Finanzsituation des Kirchenkreises, von der auch Ihre Gemeinde betroffen ist. Zu Punkt eins wäre meines Erachtens nichts mehr hinzuzufügen. Zu Punkt zwei wäre ich sehr an ihren Vorstellungen bezüglich einer Kirchenöffnung interessiert.“
Verena Möller meldete sich zu Wort und stellte die Pläne zur Umsetzung regelmäßiger Öffnungszeiten der Kirche in Holzhausen II und der Kapelle Nordhemmern vor. Ein Team Ehrenamtlicher wollte die Kirchen öffnen für spontane Andachten und Gebete Einzelner und dieser Öffnungszeiten auch beaufsichtigen, um Missbrauch und Vandalismus zu verhindern. Reimler bezweifelte die kontinuierliche Aufrechterhaltung dieses personal-aufwändigen Angebotes, wollte aber die Beteiligten nicht entmutigen und bat darum, den Dialog mit der Kirchenkreis-Leitung zu suchen, falls das Projekt zu scheitern drohte. „Es gibt ausreichend Erfahrung mit weitaus weniger aufwändig gestalteten Projekten, die sich trotzdem einer großen Resonanz erfreuen. Aber wir werden Ihren mutigen Vorstoß gern in unsere öffentlichen Verteiler aufnehmen. Auf jeden Fall ist es sinnvoll, das Angebot mit einer publikumswirksamen Veranstaltung zur Nacht der offenen Kirchen zu starten, um es auch bekannt zu machen.“
„Um die Bekanntmachung würde ich mich nicht sorgen.“, widersprach Karl-Wilhelm Wiebeking. „Wir sind hier ja eine Gemeinde, wo noch jeder jeden kennt.“
„Na ja, jeder ist vielleicht ein bisschen übertrieben.“, gab Waltraud Schafmeier zu bedenken. „Es gibt ja schon einige Zugezogene, von denen man nichts weiß.“
Wiebeking grunzte missbilligend und sagte dann: „Aber wir wollen unserem Herrn Synodalassessor ja nicht mit solchen Nebensächlichkeiten seine wertvolle Zeit stehlen, wenn es doch um so wesentliche Fragen wie Finanzen geht.“
„Also, die Inhalte unserer Arbeit sind jawohl mindestens genauso wichtig!“, protestierte Pfarrer Vieregge.
„Ja, aber ohne Moos nix los.“, beharrte Wiebeking grinsend auf seinem Standpunkt.
„Ich wäre in der Tat sehr dankbar, wenn wir auf den dritten Tagesordnungspunkt, der auch mich betrifft, kommen könnten.“, mischte Reimler sich ein. Als niemand widersprach, fuhr er fort: „Wie Sie sicherlich wissen, muss unser Kirchenkreis ab dem kommenden Haushaltsjahr rund zwei Millionen Euro einsparen, da das zu erwartende Kirchensteueraufkommen weiter zurück gehen wird. Bei 24 Gemeinden im gesamten Kirchenkreisgebiet käme auf Ihre Gemeinde ein Anteil von etwa 83000 Euro zu und ich möchte heute Abend mit Ihnen gemeinsam überlegen, wo in Ihrer Gemeinde Einsparungspotentiale liegen und an welcher Stelle der Kirchenkreis Sie unterstützen kann, um künftig wegfallende personelle Leistungen zu kompensieren.“
„Können Sie uns vielleicht zunächst einmal erklären, wie Sie auf diese aberwitzige Summe von 83000 Euro kommen?“, fragte Waldtraud Schafmeier und die Schärfe ihres Tones wurde unterstrichen von ihrer aufsteigenden Zornesröte. Aber Reimler ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Das ist ganz einfach. Geben Sie zwei Millionen dividiert durch 24 in Ihren Taschenrechner ein und Sie bekommen 83,3̅3 heraus. Auf jede Gemeinde kommt die gleiche Summe zu.“
„Moment mal.“, widersprach nun Dieter Netzeband. „Nicht jede Gemeinde hat die gleiche Anzahl Gemeindeglieder. Das muss man doch gerecht aufschlüsseln. In Ihrer Gemeinde sind doch zum Beispiel drei Pfarrstellen, weil Sie mehr Gemeindeglieder haben und damit auch ein größeres Kirchensteueraufkommen. Wie viele Pfarrstellen haben wir denn im Kirchenkreis?“
„41“, antwortete Vieregge wir aus der Pistole geschossen und tippte die Zahl schon in seinen Taschenrechner ein. Dann sagte er: „ich komme auf 49000 pro Pfarrstelle.“
„Das klingt doch schon ganz anders.“, triumphierte Netzeband. „Allerdings, wie sieht es mit dem Einsparungspotential auf Kreisebene aus? Ist darüber schon nachgedacht worden?“
„Selbstverständlich.“, antwortete Reimler und setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. „Aber Sie werden verstehen, dass wir ein starkes Zentrum brauchen, wenn wir vor Ort in den Gemeinden nur noch auf schwindende Ressourcen zurückgreifen können.“
„Ja ja“, sagte Netzeband. „Unten mähen, oben blähen, das könnt ihr.“
„Aber ich bitte Sie!“, konterte Reimler und alle Freundlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen. „Wir haben in Marien bereits etliche Küsterstunden gestrichen und im nächsten Jahr fällt eine halbe Stelle in der Kantorei weg, obwohl das unser Schwerpunkt ist. Wir müssen alle kürzer treten. Aber wenn wir zum Beispiel die Kirchenmusik auf kreiskirchlicher Ebene konzentriert fördern, dann haben wir die musikalische Erbauung vielleicht nicht mehr in dieser Dichte, aber doch von zumindest gleichbleibender Qualität. Was nützt es denn, nach dem Rasenmäherprinzip zu kürzen, wenn am Ende alle Gemeinden nur noch fünf Stunden mit einem C-Musiker aufrecht erhalten können. Das wäre das Ende der Kirchenmusik wie wir sie kennen.“
„Ich verstehe diese ganze Diskussion überhaupt nicht.“, meldete sich nun Verena Möller zu Wort. „Die Kirchensteuereinnahmen sind im vergangenen Jahr nachweislich gestiegen, weil die Konjunktur angezogen hat.“
„Ja, aber das ist nur ein Srohfeuer.“, mischte Wiebeking sich ein. „Der demographische Wandel führt langfristig zu erheblichen Einbrüchen. Da bleiben wir auch nicht verschont. Aber die Berechnung, die Herr Reimler hier dargestellt hat, ist ja so noch gar nicht durch den Haupt- und Finanzausschuss gegangen.“
„Die Zahlen habe ich vom Vorsitzenden.“, widersprach Reimler.
„Von Gerhard Massmann?“, fragte Wiebeking ungläubig.