„Nun“, begann Reimler seine Ausführung, „der Kirchenkreis könnte Schwerpunkte bilden in den Bereichen Kirchenmusik, Jugendarbeit, Gebäudeservice und Kulturarbeit. Wenn Sie beispielsweise die Personalstellen in diesen Bereichen drastisch kürzen würden, bekämen Sie die Hälfte der eingesparten Mittel in ihrem Haushalt gut geschrieben und könnten nach einem speziell errechneten Schlüssel die Leistungen des Kirchenkreises in Anspruch nehmen. Sie könnten das eingesparte Geld anderweitig verwenden oder dafür zusätzliche Leistungen beim Kirchenkreis abrufen. Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel: Sie streichen Ihre Küsterstunden und bekommen im Gegenzug einmal in der Woche Besuch von einer professionellen Reinigungsfirma, die zwei Stunden lang Ihr Gemeindehaus putzt. Die Predigtstätten halten Sie mit ehrenamtlich Mitarbeitenden in Ordnung. Sie sparen 1500 Euro monatlich, davon nehmen Sie 500 in die Hand, um über den Kirchenkreis einen Gärtnerservice zu buchen, der Ihre Außenanlagen in Ordnung hält, weil Sie das nicht mit ehrenamtlichem Engagement schultern können.“
Netzeband meldete sich wieder zu Wort: „Aber wäre es da nicht viel schlauer, wenn wir selbstständig die Küsterstunden streichen, die wir mit Ehrenamtlichen kompensieren könnten, unseren Küster behalten, dem Kirchenkreis die 1500 Euro überlassen und uns selbst um unsere Angelegenheiten kümmern, statt in ökologisch unverantwortlicher Weise kreiskirchliches Personal in der Gegend herum fahren zu lassen?“
„Das war die bisherige Vorgehensweise.“, erwiderte Reimler. „Aber wir müssen uns endlich vom Kirchturmdenken verabschieden und über den eigenen Tellerrand blicken. Wenn jede Gemeinde für sich kämpft, wird eine Einheit nach der Anderen untergehen und am Ende gibt es auch keinen Kirchenkreis mehr. Dieser Tendenz müssen wir entgegen wirken. Der Kirchenkreis muss ein eigenes Profil entwickeln, Schwerpunkte setzen und die Gemeinden müssen ihm als seine Dependancen zuarbeiten. Nur so bleibt Kirche attraktiv und wird von der Öffentlichkeit wahr- und ernstgenommen.“
„Und was für eine Art von Profil hat die Superintendentur da im Blick?“, hakte Vieregge nach.
„Nun, erstens könnten wir unsere Marien-Kantorei auf Kirchenkreis-Ebene heben und dort ausbauen. Ein weiterer Aspekt unseres kulturellen Engagements besteht in der Gründung eines Bibelmuseums, das aber noch in den Kinderschuhen steckt.“
„So etwas gibt es doch schon im Kirchenkreis Gütersloh.“, widersprach Waltraud Schafmeier.
„Wir denken da weniger an ein Bibeldorf mit erlebnispädagogischem Charakter wie in Rietberg, als vielmehr an ein kleines Museum, in dem wertvolle Bibeln, sowohl Handschriften als auch sehr alte Drucke zusammengetragen werden. Kleiner Aufwand, große Wirkung.“
„Das ist doch eine schöne Sache.“, unterstützte Wiebeking den Assessor und lächelte ihm wohlwollend zu.
„Also ich möchte mich von unseren Kirchtürmen vorerst nicht verabschieden.“, widersprach Netzeband. „Wir haben in Holzhausen II die allererste Kirche, die auf dem Gebiet der Westfälischen Landeskirche als evangelisches Gotteshaus gebaut wurde und die schnuckelige Wehrkirche in Nordhemmern stammt aus dem 12. Jahrhundert und hat den Dorfbewohnern über viele Jahre Schutz geboten, wenn sie angegriffen wurden. Minden ist weit weg und mir ist wohler, wenn Busses hier im Gemeindehaus sauber machen, als wenn hier irgendwelche Ein-Euro-Jobber aus Totenhausen oder von sonstwo rumputzen. Über Einsparungspotentiale unterhalten wir uns wohl besser, wenn wir unter uns sind!“
Vieregge erhob seine Stimme: „Ich denke, wir sind uns alle einig, dass es etwas Zeit braucht, die Möglichkeiten und Grenzen der Reduzierung unseres Finanzaufwandes zu überdenken. Ich danke Ihnen aber trotzdem, Bruder Reimler, dass Sie uns die aktuellen Überlegungen der Kirchenkreisleitung so ausführlich und offen dargelegt haben. Wenn Sie nichts mehr zu ergänzen haben, würde ich jetzt gern zur Tagesordnung übergehen. Ich überlasse Ihnen aber noch das Schlusswort und die Entscheidung, ob Sie sich auf den Heimweg machen oder uns weiterhin Gesellschaft leisten.“
„Vielen Dank“, antwortete Reimler. „Ich denke, ich konnte anbringen, was ich übermitteln wollte und nehme Ihre Fragen, Bedenken und Anregungen mit. Ich mache mich dann auf den Weg, denn ich habe, wie Sie sich vorstellen können, mehr als genug zu tun in diesen Tagen. Ich wünsche Ihnen Gottes Segen und gutes Gelingen im weiteren Verlauf Ihrer Sitzung und hoffentlich einen baldigen, wohlverdienten Feierabend.“
Damit verabschiedete sich der Assessor und ließ ein verwirrtes Presbyterium zurück.
„Was ich mich natürlich frage“, überlegte Wiebeking, „wo die dieses Museum einrichten wollen und wo die das Geld her nehmen wollen.“
„Aus unseren Rücklagen.“, unkte Netzeband und Wiebeking wiegte bedächtig den Kopf.
„Da ist das letzte Wort aber noch nicht drüber gesprochen.“, sagte er.
11. Minden – In den Bärenkämpen 14
Karin Seliger zuckte zusammen, als das Telefon klingelte. Schon seit drei Jahren lebte sie in dieser anonymen Sozialwohnung, aber noch immer saß ihr das Trauma ihrer Hahler Amtszeit im Nacken: damals war fast jeder Telefonanruf eine Hiobsbotschaft gewesen, und am Ende hatte man sie suspendiert. Sie hatte das Pfarrhaus räumen müssen und war an den Mindener Stadtrand gezogen, wo keiner sie kannte. Als sich heraus stellte, dass niemand die gegen sie erhobenen Vorwürfe beweisen konnte, war sie zwar endlich vor Strafverfolgung sicher, aber die Verletzungen der vergangenen Monate saßen nun so tief, dass sie nicht mehr in der Lage war, zu arbeiten, so dass sie auch ein Angebot auf Beschäftigung in der Krankenhaus-Seelsorge ausschlagen musste. Sie litt an schweren Depressionen, und obwohl sie sich mittlerweile in Behandlung befand, gab es immer noch Tage, an denen sie sich maximal drei Meter fort bewegte. Heute war so ein Tag, und sie hatte kein Interesse an einem Gespräch und wartete statt dessen darauf, dass der Anrufbeantworter sich einschaltete.
„Hallo Karin, hier ist der Uwe. Ich wollte nur mal fragen, wie es dir so geht. Ruf mich doch mal zurück, wenn du wieder da bist.“
Karin Seliger stöhnte auf. Uwe Pohlmann war die schlimmste Landplage während ihrer Dienstzeit in Hahlen gewesen und er verfolgte sie immer noch. Seit er heraus bekommen hatte, dass sie sich in psychiatrischer Behandlung befand, war er noch aufdringlicher geworden, weil er selbst unter einer Persönlichkeitsstörung mit psychotischen Schüben litt und sie nun als eine seiner Leidensgenossinnen sah. Hatte er sich zunächst von ihr helfen und trösten lassen, wollte er ihr nun Hilfe und Trost zurück geben, aber nicht aus Nächstenliebe, sondern aus dem Bedürfnis heraus, sie stärker an sich zu binden, damit er auch in Zukunft ihre Nähe und Zuwendung für sich einfordern konnte. Er verursachte ihr Magenkrämpfe, aber er war in seiner Aufdringlichkeit nicht so unvorsichtig, dass sie ihn wegen Stalkings hätte anzeigen können. Sie verhielt sich ihm gegenüber stets höflich, aber bestimmt und distanziert. Nie rief sie ihn zurück, er versuchte es ohnehin schon bald wieder. Diesmal klingelte das Telefon schon nach fünf Minuten erneut. Zum ersten Mal war Karin Seliger so ärgerlich, dass sie sich nicht mehr bremsen konnte. Sie riss den Hörer von der Gabel und bellte ein :“Hör endlich auf, mich anzurufen, du nervst!“, hinein. Einen Augenblick war es still, dann sagte jemand: „Karin? Alles in Ordnung?“
Es war definitiv nicht Uwe Pohlmann. „Wer ist denn da?“, fragte sie vorsichtig.
„Hier ist Paul-Gerhard.“
„Ach Paul-Gerhard!“, sagte sie erleichtert. Paul-Gerhard Solms war ein lieber, alter Kollege und guter Freund. Er hatte bereits seit zwölf Jahren die Pfarrstelle in Ober- und Unterlübbe in der Region Hille inne und hatte ihr in den vergangenen Jahren verlässlich beigestanden.
„Entschuldige.“, erklärte sie. „Eben gerade hat Uwe Pohlmann schon wieder auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Er versteht einfach nicht, dass ich von ihm in Ruhe gelassen werden will. Ich dachte schon, er probiert es gleich noch einmal.“
„Du Ärmste!“, bedauerte Solms sie. „Aber sag mal, war die Polizei schon bei dir?“
„Polizei? Wieso?“
„Wegen