„Gab es Menschen, die sich seiner Kritik auffallend häufig ausgesetzt sahen?“, fragte Kerkenbrock.
„Das kann man so nicht sagen.“, erklärte Reimler. „Natürlich schätzte er einige mehr als andere, aber da müssten Sie mit allen 41 Mitgliedern des Pfarrkonventes reden, um zu erfahren, ob sich jemand von ihm bedrängt fühlte. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“
„Könnten wir eine Liste aller Pfarrkonventsmitglieder haben?“, fragte Sabine Kerkenbrock mit einer perfekten Kleinmädchenstimme.“
„Aber selbstverständlich.“, antwortete Reimler jovial. „Ich kann Frau Attig umgehend anweisen, die Liste auszudrucken.“
„Ich bitte darum.“, erklärte Keller. „Das erspart uns eine Menge Zeit.“
Reimler verschwand kurz ins Vorzimmer und Keller und Kerkenbrock tauschten vielsagende Blicke aus.
„Aalglatt.“, zischte sie. Er nickte zustimmend
Als Reimler zurück kehrte, sagte er: „Die schärfsten und nervenaufreibensten Auseinandersetzungen hatte er allerdings mit der MAV. Von dort wurden seine Bemühungen um Umstrukturierung und Flexibilisierung des Stellenplans in den Bereichen Küsterdienste, Kirchenmusik, Jugendarbeit und Kindertageseinrichtungen immer wieder torpediert. Ich gedenke, seine Linie weiter zu verfolgen, und da kommen wohl harte Zeiten auf mich zu.“
„Das klingt alles sehr nach notwendigen Einsparungen.“, bemerkte Kerkenbrock. „Aber ist nicht das Kirchensteueraufkommen entgegen aller Erwartungen gestiegen?“
Wieder lächelte Reimler gönnerhaft. „Das müssen wir sehr oft erklären. Der kurzfristige Anstieg infolge der verbesserten Konjunktur wird sich langfristig als Strohfeuer entpuppen. Die Verpflichtungen im Bereich der Pfarrbesoldung, einschließlich der Pensionen sind gewaltig und verschlingen den größten Teil der verfügbaren Gelder. Auch wenn das niemand will, werden wir wohl nicht drum herum kommen, wieder eine Parrer-zentrierte Kirche zu werden, in der Küsterdienste, Jugendarbeit und Kirchenmusik weitestgehend von Ehrenamtlichen getragen werden müssen. Das ist nun einmal die Wahrheit, doch wer sie ausspricht, muss damit rechnen, Prügel einzustecken.“
„Oder ermordet zu werden.“, ergänzte Keller trocken.
„Das haben Sie gesagt.“, bemerkte Reimler.
„Sind Ihnen denn einzelne Vorgänge im Bereich Personalangelegenheiten bekannt, deren Charakter so schwerwiegend ist, dass wir ihnen vielleicht näher auf den Grund gehen sollten?“, fragte Keller.
„Da muss ich leider passen.“, antwortete Reimler mit deutlich gespieltem Bedauern.
„Dann stellen Sie uns doch bitte eine Liste sämtlicher beim Kirchenkreis Minden Beschäftigter zusammen mit Name, Adresse, Telefonnummer, Berufsbezeichnung und Name, Adresse und Telefonnummer der Einrichtung, in der sie ihre Beschäftigung ausüben. Außerdem brauchen wir Einsicht in Ihre Salden, Sachbücher und Haushaltspläne, um einen möglichen Ansatzpunkt für unsere Ermittlungen zu finden.“
„Das ging mir jetzt alles ein bisschen schnell.“, stieß Reimler hervor und seine Augäpfel zuckten nervös hin und her. „Könnten Sie das mit Frau Attig besprechen? Sie wird sich um alles kümmern. Ich werde sie anweisen, alles Ihren Wünschen entsprechend zusammenzustellen.“
„Auch gut.“, antwortete Keller. „Dann wollen wir mal, und vielen Dank für Ihre wertvolle Zeit.“
Die Ironie in diesem Satz war nicht zu überhören, aber Reimler ignorierte sie und wies die Sekretärin zur Herausgabe aller erforderlichen Daten an die Polizei an. Dann verschwand er wieder in seinem Büro.
Was glaubten diese Polizeibeamten eigentlich? Hielten sie etwa ihn für Volkmanns Mörder? Oder sonst irgendeinen Mitarbeiter des Kirchenkreises? Das war doch völlig absurd. Sicher war irgendein drogenabhängiger Spinner in das Büro des Sup eingedrungen und aus Ärger darüber, dass es nichts zu holen gab, hatte er diesen Unsinn mit der Beschneidung inszeniert. Volkmann hatte viele Gegner gehabt, aber keine Feinde. Es klopfte. Reimler antwortete mit: „Ja, bitte.“ und herein trat Gerhard Massmann, Vorsitzender des Haupt- und Finanzausschusses. Massman arbeitete als leitender Angestellter in der Finanzabteilung der Mindener Stadtverwaltung und verfügte über äußerst flexible Arbeitszeiten. Er hatte noch ein paar Jahre bis zum Ruhestand, seine Kinder waren bereits aus dem Haus und er war seit zehn Jahren Mitglied des Presbyteriums der Mariengemeinde. Als Finanzkirchmeister zog er dort mit Reimler an einem Strang, der bis zu Volkmanns gewaltsamem Tod dort Pfarrer gewesen war.
„Was wollte die Polizei von Ihnen?“, fragte er.
„Ansatzpunkte für Ermittlungen.“, antwortete Reimler. „Ich konnte ihnen nicht weiter helfen. Darum verlangen sie jetzt nach den Daten sämtlicher Mitarbeiter und nach lückenlosem Einblick in unsere Finanzen.“
„Sind die denn Datenschutz-technisch überhaupt dazu berechtigt?“
„Im Zuge einer Mordermittlung.“
„Aber für so etwas brauchen die doch eine richterliche Anordnung.“
„Aber Herr Massmann.“, widersprach Reimler. „Was haben wir denn zu verbergen? Hier geht doch alles mit rechten Dingen zu.“
„Selbstverständlich.“, antwortete Massmann. „Nur haben Sie sich mal überlegt, was passiert, wenn die auf die Baukosten in der Königstraße aufmerksam werden und nachhaken, um was für ein Projekt es sich da handelt?“
„Aber das ist doch nicht illegal.“
„Nein, aber wenn Informationen darüber vorzeitig an die Presse dringen – und diskret geht die Polizei mit solchen Informationen ganz bestimmt nicht um – dann könnte unser Projekt noch vorzeitig gestoppt werden und all unsere Bemühungen wären vergeblich gewesen. Das Bibelmuseum unterliegt der äußersten Geheimhaltung bis alles in trockenen Tüchern ist, sonst wird es zu Tode diskutiert und die Gelder verpuffen wieder in irgendwelchen sinnlosen Projekten für die Jugendarbeit.“
Reimler errötete leicht und räusperte sich. „Also ganz so schrecklich geheim würde ich es nicht mehr halten. Der Bau ist ja schon aufgenommen und wir sollten allmählich anfangen, in den Gemeinden dafür zu werben.“
In Massmanns Kopf schrillten die Alarmglocken. „Mit wem haben Sie darüber geredet?!“
„Na ja, ich habe nicht direkt darüber geredet, nur so am Rande unsere Pläne als Beispiel für die Entwicklung eines Kirchenkreis-eigenen Profils dargestellt, gestern, bei der Presbyteriums-Sitzung in Holzhausen II-Nordhemmern.“
„War Karl-Wilhelm Wiebeking dabei, der Kirchmeister?“
„Ja, sicher, und er war sehr angetan von der Idee.“
„Wie hat er das geäußert?“
„Er sagte, das sei eine sehr schöne Sache.“
„Na, da werde ich ihm noch beim nächsten Haupt- und Finanzausschuss auf den Zahn fühlen. Ich hoffe, er dreht uns keinen Strick daraus, dass wir die Kosten bisher in den allgemeinen Bauausgaben untergebracht haben. Wir müssen uns eine gute Argumentation ausdenken, damit Wiebeking keinen Eklat herauf beschwört. Ich traue dem sturen Bauern nicht über den Weg.“
„Sie werden schon einen Weg finden.“, erwiderte Reimler freundlich lächelnd.
„Ja.“, antwortete Massmann. „Wahrscheinlich. Aber halten Sie sich vorerst mit Äußerungen über das Museum zurück. Warten Sie, bis ich Ihnen grünes Licht gebe. Jetzt aber etwas Anderes. Herr Volkmann hatte doch diese aufreibende Auseinandersetzung mit der MAV wegen der neuen Verträge für die Erzieherinnen. Haben sie mit denen schon einen Gesprächstermin?“
„Ja, morgen Nachmittag um 17.00 Uhr. Möchten Sie vielleicht dazu kommen?“
„Selbstverständlich möchte ich das!“, bellte Massmann verärgert. Es geht ja schließlich um meinen Verantwortungsbereich. Haben Sie alles Schriftliche beieinander?“
„Ja, sicher.“, antwortete Reimler