Ein Essen bei Viktoria. Jens Johler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Johler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844229639
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möglich, ich glaube nur nicht mehr daran. Aber ich wünsche dir dabei viel Glück.«

      »Danke«, sagte Winfried, »das wird mir sicherlich viel helfen.«

      Es hat keine Zweck, dachte ich, es hat einfach keinen Zweck. Es steht mir auf der Stirn geschrieben, dass mein Leben ausläuft, dass ich das Spiel nur noch pro forma zuendebringe, wie eine Fußballmannschaft, die hoffnungslos im Rückstand liegt und nur noch darauf wartet, dass der Schlusspfiff kommt.

      Und dann, auf einmal, dachte ich an Inverness. Und wieder erschien es mir als die einzige Rettung. Ich fliege morgen nicht nach Berlin, ich fliege nach Inverness, noch habe ich die Wahl. Und während ich das dachte, lächelte ich Winfried so freundlich, ja euphorisch, an, dass er verwirrt von seinem Barhocker herunterrutschte und überhastet stammelte, er müsse jetzt aber wirklich auf sein Zimmer gehen, es sei schon viel zu spät.

      Am Morgen wachte ich mit einem fürchterlichen Kater auf. Ich ging hinunter in den Frühstücksraum und dachte, ich muss mich entscheiden, Berlin oder Inverness. Oder sterben. Am meisten war mir nach Sterben zumute. Ich hatte den Teller mit Spiegeleiern vor mir, bacon and eggs, streute Salz auf die Eier und wünschte, es wäre Strychnin. Dann fiel mir ein, dass ich nicht wusste, ob man Strychnin streuen kann. Ich fragte Winfried, und der wusste es auch nicht.

      Viktoria sagte, ich möge bitte damit aufhören, das sei kein Thema, aber Max hatte bereits Blut geleckt. Strychnin sei nämlich ein ganz gefährliches Gift, sagte er, und im London Dungeon habe er eine Frau gesehen, die habe acht Männer mit Strychnin vergiftet. Es sei allerdings keine wirkliche Frau gewesen, auch keine wirklichen Männer und kein wirkliches Strychnin, sondern alles nur aus Wachs. Ob ich schon mal im London Dungeon gewesen sei? »Nein«, sagte ich.

      Ich müsse unbedingt mal hingehen, sagte Max. Es gebe da Menschen, die hätten anderen Menschen getötet, zerstückelt, gekocht und aufgegessen, aber natürlich alles nur aus Wachs. Er würde am liebsten gleich nochmal hingehen, es sei viel spannender als Sesamstraße.

      »Hör endlich auf damit!« sagte Viktoria. Sie kramte ein paar Münzen aus ihrer Handtasche und schickte ihn zu einem Apparat, an dem man Flugzeuge abschießen konnte und den es auch in diesem Hotel gab, obwohl es nicht dieselbe Kategorie war.

      Dann gingen wir in unsere Zimmer und packten die Koffer. Ich machte es genauso, wie ich es am Abend zuvor im Theater gesehen hatte, in »Fool for Love«: alle Sachen irgendwie hineinschmeißen und den Reißverschluss zuziehen. Ich hätte auch gern noch ein bisschen mit dem Kopf oder mit den Fäusten gegen die Wand geschlagen, aber wozu, wenn niemand zuschaut.

      Die Fahrt nach Heathrow war beruhigend. Man durfte im Zug nicht rauchen, das war gut. Man musste schweigen, das war besser. Ich hatte Max erzählt, man dürfe in den Londoner U-Bahnen nicht reden, und wie durch ein Wunder hatte er es geglaubt. Und wirklich, wenn der Zug an einem Bahnhof hielt, war es darin so still wie in einer Kirche. Man spürte Gottes Nähe. Natürlich auch, weil man nicht rauchen durfte.

      In Heathrow sagte ich, ich würde nicht mit nach Berlin fliegen, ich wolle woandershin.

      »Wohin denn?« fragte Viktoria.

      »Ich weiß noch nicht«, sagte ich.

      »Soll das ein Witz sein?« sagte Winfried.

      »Nein«, sagte ich, »kein Witz.«

      »Also dann, bis nachher!« sagte Viktoria. »Du kommst ja doch.«

      Wieso ist sie so sicher, dachte ich, als ich zum tickets-and-reservations-desk ging. Was hat sie davon, wenn ich mit ihr nach Berlin fliege? Sie geht mit ihrem Sohn und ihrem Kindermann nach Hause, und ich muss wieder zurück in meine Wohnung, die kein zu Hause ist, sondern ein Obdachlosenasyl oder meinetwegen ein Luxusobdachlosenasyl. Nein, dachte ich, ich fliege jetzt nach Inverness. Ich suche mir ein kleines cottage und eine Mrs Kingdom und fange an zu arbeiten. Ich habe immer nur in Ruhe arbeiten wollen, mehr nicht, stattdessen bin ich wie ein Nomade in der Welt umhergeirrt und habe eine Frau gesucht. Ich wollte eine Frau, die mir das Arbeiten ermöglicht, aber ich habe immer nur Frauen getroffen, die es mir geradezu unmöglich gemacht haben, indem sie mit anderen Männern davonliefen und mir kryptische Eilbriefe schrieben. Wenn ich jetzt nicht nach Inverness fliege, dachte ich, dann habe ich verspielt. Dann tue ich wieder nur das, was Viktoria sagt, anstatt das zu tun, was meine innere Stimme sagt. Du fährst jetzt sofort nach Inverness, rief meine innere Stimme, als ich in der Schlange vor dem tickets-and-reservations-desk stand, nach Inverness!

      Je näher ich dem Schalter kam, desto glücklicher wurde ich. Mein Gesicht entspannte sich, mein Körper straffte sich, und als ich an die Reihe kam, brauchte ich mich nicht einmal zu räuspern, so entschlossen und innerlich gefestigt war ich. Ich machte den Mund auf, um zu sagen, ich hätte ein Ticket nach Berlin und wollte es gegen eins nach Inverness eintauschen, aber bevor ich über Berlin hinausgekommen war, stürzte eine atemlose und völlig aufgelöste Frau herbei und bat mich, sie vorzulassen. Ihr Flugzeug starte in zwanzig Minuten, sagte sie, und sie habe noch nicht einmal ein Ticket. Please!

      Ich sah, dass diese Frau in äußerster Not war und ließ sie vor. Sie wollte nach Birmingham. Während die British Airways-Angestellte auf dem Computer herumtippte, erzählte die Frau in ihrem atemlosen Englisch, sie sei gerade aus Amerika gekommen und habe zwei Tage und zwei Nächte nicht geschlafen. Ihr Vater sei schwerkrank, deswegen müsse sie nach Birmingham, aber das Flugzeug gehe schon in wenigen Minuten, und Koffer habe sie auch noch. Wohin ich denn wolle?

      »Nach Berlin«, sagte ich.

      Oh, Berlin! sagte die Frau, da sei ihr Mann sehr oft gewesen. Er sei sehr angetan von Berlin und den Deutschen. Man sage zwar, die Deutschen könnten sich nicht benehmen, aber das sei nur ein Vorurteil. So redete sie weiter und weiter und steigerte sich dabei immer mehr in ein Loblied auf Deutschland und die Deutschen hinein, und als sie ihr Ticket in der Hand hielt, musste ich sie unsanft und schon unhöflich an ihre Koffer und ihren Vater in Birmingham erinnern, damit sie nicht bis in alle Ewigkeit von Berlin und von den Deutschen schwärmte.

      »Womit kann ich Ihnen helfen«, sagte die British Airways-Angestellte. In diesem Augenblick kam aus dem Lautsprecher der Aufruf für den Flug nach Berlin, second call. Es klang wie ein Befehl. Ich nahm meinen Koffer mit den Originaltönen von Mrs Arnold, ging zum check-in und zeigte mein Ticket.

      »Die Economy Class ist voll«, sagte die junge Dame, die in ihrer blauroten Uniform bezaubernd aussah, »ich gebe Ihnen Club Class.« In der Abflughalle saßen Viktoria, Max und Winfried.

      »Da bist du ja«, sagte Viktoria und wunderte sich überhaupt nicht darüber, dass ich nicht nach Inverness geflogen war.

      Ich setzte mich mit meiner boarding card neben den Kindermann und sagte, ich hätte Club Class.

      »Ist das was besseres?« fragte er.

      »Ich denke schon«, sagte ich.

      »Und warum?«

      Das bessere an der Club Class war, dass man soviel trinken durfte, wie man wollte. Champagner, Weißwein, Brandy, Rotwein. Oder Tomatensaft. Ich nahm Champagner, zwei Flaschen, eine zum Essen, eine für hinterher. Das Essen lehnte ich ab. Der Mann zu meiner Linken war ein großer, kräftiger, blonder Mann, der mich an den berühmten Tenor Peter Hofmann erinnerte, wahrscheinlich weil er Peter Hofmann war. Er besetzte mit seinem rechten Ellenbogen sofort die ganze Lehne zwischen uns, so dass mein linker Ellenbogen von da an in der Luft hing. Der Mann zu meiner Rechten war Professor für Altenpsychiatrie. Er kam gerade aus Glasgow von einem Kongress der Weltgesundheitsorganisation. Er war sehr optimistisch. Die alten Leute seien schwer im kommen, sagte er. Im Jahre zweitausend werde es doppelt soviele alte Leute geben wie heute. Selbst in den Entwicklungsländern sei dieser Trend schon zu bemerken. Das Problem dabei sei aber, sagte er, dass die alten Menschen keine Lobby hätten, man müsse für sie sorgen und für sie eintreten, und dazu sei er da.

      »Und Sie?« fragte er. »Was machen Sie?«

      »Journalist«, sagte ich und erzählte von Mrs Arnold und den Originaltönen.

      »Dann machen Sie doch eine Sendung über Altenpsychiatrie«, sagte er, »was halten Sie davon?«

      In diesem Moment setzte das Flugzeug