Ein Essen bei Viktoria. Jens Johler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Johler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844229639
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      Nein, dachte ich, ich habe nicht verloren. Morgen beginnt ein neues Leben. Heute ist nichts mehr zu machen, aber morgen. Ichhabe ein Recht zu leiden. Ich wollte, dass sie mich in Ruhe lässt, aber sie hat mich nicht in Ruhe gelassen, sie hat mich in Panik versetzt. Sie hat gewartet, bis sie mich in Panik versetzen konnte, sonst hätte sie mich schon eher verlassen, schon bevor sie ihren neuen Lover hatte. Aber so sind die Frauen, sie müssen unbedingt so lange warten, bis der neue Lover da ist, vorher verlassen sie dich nicht.

      Noch Ende Februar hatte Andrea mir geschrieben, dass sie sich riesig darauf freue, mich in London zu sehen. Anfang März war sie auch noch herzlich und in Vorfreude. Und dann, am Tag vor meinem Abflug, auf einmal dieser Eilbrief: »Ich möchte Dich bei Deinem Londonaufenthalt nicht sehen, den Grund dafür wirst du erraten können.« War das in Ordnung? Ich hatte mich auf sie eingestellt, ich hatte alles arrangiert, den Flug, das Hotel, das Doppelzimmer, alles. Es fehlt nicht viel, und ich hätte sogar schon die Mütze gekauft, die Mütze für Mrs Kingdom.

      Mrs Kingdom war ihre Wirtin. Sechzig Jahre, Witwe, zwei Töchter, ein bisschen schwerhörig. Das Zimmer, schrieb Andrea, sei so richtig gemütlich und nett, das Reihenhaus so typisch englisch, und das Frühstück so richtig lecker, mit cerials und allem. Manchmal koche Mrs Kingdom sogar für sie, obwohl sie ja nur bed and breakfast habe und nicht bed and dinner , aber trotzdem. Sie habe sich sogar schon überlegt, ob sie nicht ganz dableiben solle, nicht nur die sechs Wochen für den Englischkurs, sondern für immer! Bei Mrs Kingdom fühle sie sich so richtig wie zu Hause. Und eines Abends hatte sie mich angerufen und gesagt, ich müsse unbedingt noch eine solche Mütze besorgen, wie ich sie ihr vor ihrer Abreise geschenkt hatte, Mrs Kingdom sei nämlich ganz verrückt nach dieser Mütze.

      Es war eine Mütze aus der Volksrepublik China. Außen braunes Leder, innen Kaninchenfell, an der Seite Ohrenklappen mit Bändern, die man unterm Kinn zusammenbinden konnte. Ich hatte sie Anfang der 70er Jahre in einem Laden gekauft, in dem es rotchinesische Hochglanzillustrierte, Jacken im Mao-Look und diese Mützen gab. Getragen hatte ich sie nie, sie war zu klein. Andrea passte sie hervorragend. Sie war in London, während sie Stunden um Stunden durch die Straßen lief und sich alles anschaute, die Häuser und die Menschen, die Busse und die Taxis, alles ganz toll, immer wieder auf diese Mütze angesprochen worden, das hatte sie schon in ihrem ersten Brief geschrieben. Ganz London stand gewissermaßen Kopf nach dieser Mütze. Und Mrs Kingdom wollte auch so eine.

      Ich hätte sie auch gekauft, ich hatte nur den Laden nicht mehr finden können. Zum Glück. Sonst läge die Mütze jetzt bei mir herum. Das mit der Mütze war nochmal gutgegangen, das mit dem Flug und mit dem Doppelzimmer weniger. Wozu für eine ganze Woche ein Doppelzimmer reservieren und sogar im voraus bezahlen, wenn man am Ende doch allein ist und nicht länger als drei Tage bleiben will? Das war doch Unsinn! Drei Tage musste ich sowieso nach London, weil ich zusammen mit Viktoria eine alte Dame für den Rundfunk interviewen wollte. Den Rest der Woche hatte ich mit Andrea verbringen wollen, damit sie noch einmal mit mir zusammen durch die Straßen laufen und alles anschauen konnte, die Häuser und die Menschen, die Busse und die Taxis, alles ganz toll – und dann kam auf einmal dieser Eilbrief.

      In meiner ersten Panik hatte ich Maria angerufen. Aber noch während bei ihr das Telefon klingelte, fragte ich mich, ob ich nicht wieder auflegen sollte. Sollte ich mich nicht lieber hinsetzen und warten, bis es vorbei war? Aber nein, sagte ich mir dann, du kannst nicht dein ganzes Leben lang immer nur warten, bis es vorbei ist, irgendetwas musst du tun. Wenn Maria nicht da ist, umso besser.

      Maria war da. Ich sagte, ich hätte mich mit einer jungen Dame in London treffen wollen, und die junge Dame habe mich versetzt. Maria lachte.

      »Nun ist das Doppelzimmer frei«, sagte ich, »bzw. das zweite Bett im Doppelzimmer, willst du mich nicht besuchen? Von Sonntag bis Donnerstag, auf meine Kosten, Flug und alles?«

      »Das ist ja ein verlockendes Angebot«, sagte sie.

      »Dann nimm es doch an«, sagte ich.

      »Von wann bis wann, sagtest du?«

      »Von Sonntag bis Donnerstag.«

      »Ich werd's mir überlegen.«

      »Ich muss es aber heute wissen«, sagte ich, »ich fliege ja schon morgen.«

      »Gut«, sagte Maria, »ich rufe dich in einer halben Stunde wieder an.«

      Danach war ich beruhigt. Die Panik hatte sich gelegt. Ich machte mich daran, den Koffer zu packen, vor allem das Aufnahmegerät, das Mikrophon und die Kassetten für das Interview, und als ich mich im Innersten befragte, ob es mir lieber wäre, wenn Maria ja sagte oder nein, da musste ich mir ehrlich sagen, dass es mir egal wäre.

      Nach einer halben Stunde rief Maria wieder an und sagte, sie habe es sich überlegt, es sei wirklich ein äußerst verlockendes Angebot, und es täte ihr schrecklich leid, dass sie es nicht annehmen könne. Aber sie müsse noch einen Artikel für die Neue Zürcher Zeitung schreiben, und ich wisse ja, wie langsam sie arbeite.

      »Ist gut«, sagte ich, »es war ja nur ein Angebot.«

      »Ja«, sagte Maria, »und was für ein verlockendes!«

      Am nächsten Morgen holten Viktoria, ihr Sohn Max und Winfried mich mit dem Taxi ab, und wir fuhren zum Flughafen. Winfried war Max' Kindermädchen oder, wie Viktoria richtig sagte, sein »Kindermann«.

      Erst in London dachte ich wieder an Andrea. Sie hatte mir geschrieben, es sei warm und frühlingshaft. Es war kalt und regnerisch.

      Im Hotel gab es eine Überraschung. Man hatte kein Zimmer für uns. Irgendein Computer hatte irgendetwas durcheinandergebracht. Das sagte man uns natürlich nicht sofort, sondern erst, nachdem man uns solange hingehalten hatte, bis wir kampfunfähig waren. Max verspielte währenddessen ein Vermögen an einem dieser elektronischen Geräte, mit denen man Flugzeuge abschießen kann, Winfried maulte, weil er unbedingt sofort die Stadt sehen wollte, Viktoria regte sich mehrere Male auf, ab, und wieder auf –, nur ich blieb ruhig. Ich hatte es nicht eilig. Je länger ich hier im Hotel saß und nicht wusste, was nun werden würde, desto geringer war die Gefahr, Andrea und ihrem Lover über den Weg zu laufen. Sie hockten jetzt wahrscheinlich in der Tate Gallery vor einem Turner oder Constable, und ich konnte vorbeikommen und mir ihr Glück anschauen. Aber darauf konnten sie lange warten, ich würde doch nicht kommen, weder in die Tate Gallery noch in die National Gallery. Die Kunst war mir für dieses Mal verleidet. Ich hätte nicht einmal an Cézanne meine Freude gehabt, mit Andrea und ihrem Lover davor.

      Nach ungefähr drei Stunden kam der Manager des Hotels, drückte uns ein Begleitschreiben für ein anderes Hotel derselben Kategorie sowie zwei einzelne Pfundnoten für das Taxi in die Hand und wünschte uns alle Gute. Das Taxi fuhr ein paar Straßen weiter zu dem anderen Hotel, der Fahrer war mit den zwei Pfund zufrieden, und nur die Sache mit derselben Kategorie erwies sich als Schwindel. Aber inzwischen waren wir so müde, dass es auch das Obdachlosenasyl getan hätte. Wir schleppten die Koffer in unsere Zimmer und trafen uns eine halbe Stunde später im Foyer. Viktoria und Winfried wollten in die Stadt, Max musste wohl oder übel mit, und auch ich schloss mich ihnen zögernd an. Zwar fürchtete ich, unterwegs Andrea mit ihrem Lover zu begegnen, aber ich hatte auch keine Lust, allein in meinem Doppelzimmer auf dem viel zu großen Bett zu liegen und die Decke anzustarren.

      Wir fuhren mit dem Taxi zum Trafalgar Square, und gleich nachdem wir ausgestiegen waren, sah ich sie: Andrea! Mit Lover! Eng umschlungen! Direkt neben einem der großen Löwen, die die Säule mit dem Admiral bewachen! Geistesgegenwärtig versteckte ich mich hinter dem breiten Rücken des Kindermannes. Mein Herz klopfte, meine Knie schlotterten, mein Atem stockte. Es war demütigend. Ich hatte es vorausgesehen, es hatte so kommen müssen, ich kannte die Zufälle, man konnte sich hundertprozentig auf sie verlassen. Ich hätte im Hotelzimmer bleiben sollen, soviel war sicher. Ich fühlte mich wie ausgestoßen, wie einer, der auf dieser Welt nichts mehr zu suchen hat, weder in London noch in Berlin noch sonstwo, und vor allem nicht auf dem Trafalgar Square. Und das, obwohl London meine Stadt war! Ich hatte sie für mich erobert, vor Jahrzehnten schon. Andrea war nicht die erste, die hier einen Englischkurs mit bed and breakfast besuchte, ich hatte das vor fünfundzwanzig Jahren schon gemacht, da lag Andrea noch so gut wie in den Windeln!

      Das