Ein Essen bei Viktoria. Jens Johler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Johler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844229639
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Das würde sich schon ausgleichen, dachten wir, wenn heute der eine zuviel gezahlt hat, zahlt morgen der andere zuviel, am Ende wird es sich ausgeglichen haben, dafür sorgt das Gesetz der großen Zahl. Man muß diesem Gesetz natürlich Vertrauen schenken, sonst kann man die Mischform vergessen. Wozu eine solche Regelung treffen, wenn man es doch nicht lassen kann, alles und jedes nachzurechnen?

      Das aber ist Erasmus' Art, obwohl er propagiert, man solle fünfe gerade sein lassen. Er rechnet nach, wo immer eine Rechnung auftaucht. Die Mundwinkel buchhalterisch heruntergezogen überprüft er, selbst wenn ich bezahle, im Restaurant die Rechnung. Er sei zu oft betrogen worden, sagt er. Die Kellner legten es darauf an. Es liege vielleicht sogar ein bisschen an ihm selbst, er habe etwas an sich, das sie zum Betrug herausfordere. Aber gerade deshalb rechne er nach, damit sie nicht glaubten, mit ihm könnten sie es machen. Die Kellner verachteten den Gast, den sie übervorteilen könnten, und das könne er nicht auf sich sitzen lassen. Das Geld könne er verschmerzen, die Verachtung der Kellner nicht. Er sei kein Knickerarsch, er wolle aber respektiert werden. »Sie stecken alle unter einer Decke«, sagt er, »Sie haben sich alle miteinander verschworen. Wo du auch hinkommst, dieselben Tricks, dieselben Gesten, dieselben Blicke, dieselben Gaunereien. Es ist ein internationale Verschwörung, es ist eine Verschwörung des internationalen Weltkellnertums!«

      Und dann lacht er! Haha! Er denkt, es sei komisch, was er da sagt, es sei ironisch übertrieben. Das ist es oder wäre es auch, wenn da nicht auch noch etwas anderes wäre: Erasmus' Finger auf der Rechnung, Posten für Posten herunterkletternd bis zur Summe unter dem Stich. Was soll da noch die Ironie? Man kann nicht ironisch nachrechnen. Entweder man rechnet, oder man rechnet nicht. Erasmus rechnet. Er entdeckt einen Fehler. Er winkt den Kellner herbei und sagt mit gedämpfter Stimme – nicht übertrieben anklagend, aber auch nicht übertrieben freundlich –, er glaube, an der Rechnung sei etwas nicht in Ordnung.

      »Nicht, mein Herr?«

      »Nein, sehen Sie hier: Das haben wir nicht bestellt.«

      »Die Portion Pommes frites extra, mein Herr.«

      »Das hier?«

      »Ja, mein Herr.«

      Die Rechnung stimmt. Erasmus hat sich blamiert. Aber er merkt es nicht, er ist zufrieden. Er hat nachgerechnet. Kein noch so schönes Apartment mit Sonnenterrasse und Blick auf den Pazifik wird ihn davon abhalten. Er musste es dann sogar dahin treiben, dass er mich verdächtigte, obwohl ich ja gar kein Kellner bin. Er musste mir die Absicht unterstellen, ich wolle ihn betrügen oder übervorteilen. Er musste mich beleidigen.

      Am Abend unserer Abreise aus Laguna Beach warf er mir vor, ich nutzte ihn aus. Ich gäbe mir den Anschein eines großzügigen Menschen, sagte er, eines Menschen, der eher zuviel bezahle als zuwenig, in Wirklichkeit aber drehte und wendete ich alles so, dass es zu meinem Vorteil sei. Ich bezahlte das Eis, und er die Benzinrechnung. Ich den Kaffee, und er die Eintrittskarten für die Universalstudios. Ich die Limonade, und er die Hamburger mit Pommes frites. Undsoweiter. Nichts davon stimmte, alles war an den Haaren herbeigezogen, selbst sein eigene, heimlich notierte Rechnung sprach dagegen. Am Ende dieser kaum noch so zu nennenden Metadiskussion begann er nämlich, mir anhand seines Notizbuches vorzurechnen, was an diesem Tage ich und was er bezahlt hatte. Ich war zu aufgeregt und zu empört, um meinerseits das Rechenwerk zu überprüfen. Mag sein, es stimmte. Mag sein, er hatte etwas vergessen. Es war mir egal. Auf jeden Fall war das Ergebnis seiner Rechnung, dass er an diesem Tage einen Dollar fünfzig zuviel bezahlt hatte. Einen Dollar fünfzig! Natürlich rechnete er diese Summe auf fünf Wochen hoch, behauptete, der Fehlbetrag zu seinen Ungunsten sei an anderen Tagen noch höher, von Ausgleich und Gesetz der großen Zahl könne bei meinem das Zücken meines Portemonnaies geschickt verzögernden Gebaren nicht die Rede sein, er zahle drauf, ich sahnte ab, und so weiter. Es war absurd. Ich hatte das Gefühl, es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Rette sich, wer kann!

      Am nächsten Tage trennten wir uns. Ich fuhr allein nach San Francisco, nach Las Vegas, nach New Orleans und dann von dort nach Houston, wo wir unseren Rückflug antraten. Im Flugzeug, während wir vom Plastikteller Sandwiches aßen, kam es zur letzten Metadiskussion. Wir einigten uns darauf, dass die Affäre äußerst lächerlich gewesen sei. Erasmus, bester Laune, gestand, er habe bei der Aufrechnung auch noch gemogelt. Die Differenz sei nicht ein Dollar fünfzig gewesen, sondern nur ein Dollar.

      Inverness

      Es kam mir länger vor, aber ich war tatsächlich erst zwei Stunden wieder in Berlin. Und schon betrunken.

      Ich hatte meine letzten drei, vier Zigaretten geraucht und ebensoviele Gläser Sherry geleert. Danach überfiel mich der Heißhunger auf Spiegeleier. Vermutlich, weil ich schon zum Frühstück Spiegeleier gegessen hatte, bacon and eggs. Wenn ich morgens Spiegeleier esse, komme ich den ganzen Tag nicht davon los. Das ist wie mit dem Alkohol. Oder den Zigaretten. Ich rannte in die Küche, stellte den Herd an, wartete darauf, dass die Butter in der Pfanne schmolz, gab drei Eier hinein, legte zwei Scheiben Käse darauf, tat den Deckel auf die Pfanne und betete, dass das Zeug da drinnen endlich gar würde.

      Im Kühlschrank war noch eine Flasche Sekt. Ich öffnete sie, füllte mir ein Glas ab, verschloss die Flasche wieder und stellte sie zurück. Dummerweise waren die Zigaretten alle. Jetzt hätte ich gern noch eine geraucht. Eine jetzt und eine nach dem Essen. Schade. Zum Automaten gehen kam nicht mehr in Frage. Ich wollte mit dem Rauchen aufhören. Unbedingt. Mit dem Rauchen, mit dem Saufen, mit dem Essen. Nur vorher noch die Spiegeleier.

      Ich ließ die Eier auf den Teller gleiten, kramte Messer und Gabel aus der Schublade, rannte zurück ins Wohnzimmer und aß den Teller leer. Dazu trank ich den Sekt. Danach legte ich mich ins Bett. Mein Bauch war voll, meine Brust schmerzte, mein Kopf war benebelt –, da half nur noch das Bett. Ich hätte nicht lesen können, erst recht nicht schreiben, auch nicht mit irgendjemand reden, noch nicht einmal ins Kino gehen. Fernsehen vielleicht, fernsehen geht immer. Mein Fernseher war kaputt.

      Ich lag im Bett und dämmerte vor mich hin. Wie spät war es? Halb sechs. Zu früh, um sich ins Bett zu legen. Zu früh zum Betrunkensein. Zu spät, um mit dem Tag noch etwas anzufangen.

      Ich dachte an Andrea. Ich war nicht betrunken genug, um nicht an sie denken zu müssen, und nicht nüchtern genug, um mich auf etwas anderes konzentrieren zu können. Ich war ihr ausgeliefert. Es ist in Ordnung, dachte ich, es ist in Ordnung. Die Sache lief nicht mehr, schon lange nicht, sie ist im Grunde nie gelaufen, nicht einmal in den ersten Wochen. Es war Lüge, alles Lüge. Sei froh, dass es zuende ist, sei froh!

      Ich war nicht froh. Ich dachte an den neuen Lover. Wahrscheinlich war er jünger als ich, lebensbejahend, sportlich, attraktiv, und was man sich als Frau so wünschen kann von einem Mann. Für einen resignierten, selbstzerstörerischen, jede gute Laune verderbenden Anfangvierziger hätte sie mich nicht verlassen müssen. Da hätte sie auch bei mir bleiben können.

      Wahrscheinlich schläft sie jetzt mit ihm, dachte ich. Na und? So toll war es nicht. Sie sagte, es sei toll, ich sagte, es sei toll, und in Wirklichkeit habe ich gedacht, wie komme ich bloß hier raus. Ich habe mich immer nur nach einer anderen gesehnt. Oder nach dem Alleinsein.

      Du wolltest allein sein, sagte ich zu mir, jetzt bist du es, was willst du mehr? Sie ist mit ihrem Lover glücklich, und du bist wieder ein freier Mann. Ist doch in Ordnung.

      Aber je mehr ich dachte, es ist in Ordnung, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass es irgendetwas anderes war, eine Gemeinheit, eine Bosheit, eine Hinterhältigkeit. Ich wollte sie lossein und meine Ruhe haben, jetzt bin ich sie los und habe doch nicht meine Ruhe. Ich saufe, ich rauche, ich fresse, ich lasse mich gehen. Und alles nur, weil sie den neuen Lover hat.

      Du bist ein Kind, sagte ich dann wieder zu mir, du bist ein alter Mann, aber ein Kind. Du bist mit ihr nicht glücklich, aber du willst auch nicht, dass sie mit einem anderen glücklich ist, das ist kindisch. Du bist nie richtig erwachsen geworden! Du kannst dich mit deinem verkniffenen Gesicht und der dahintersteckenden Kinderseele nirgendwo mehr blicken lassen. Du hast verloren, endgültig verloren.

      Es gelang mir, mich im Bett aufzusetzen und erst das rotgemusterte und dann auch noch das grüngemusterte Kissen zwischen mich und die Wand zu schieben. Meine Nase war verstopft. Ich holte vom Fußboden