Später in Montana, im Yellowstone Park, waren es dann nicht die Schwarzen, sondern die Bären. Vor ihnen wurde überall gewarnt. Schon beim Eingang des Parks eine riesige Warntafel: Immer im Auto bleiben! Niemals aussteigen! Honigtöpfe zu Hause lassen! Im Hotel: Warntafeln auch hier, Flugblätter mit Instruktionen für den Notfall, bear-bells im Schaufenster des Kiosk. Wir übernachteten im Lake Hotel, sehr schön gelegen, prächtiger Holzbau, leider schlecht beheizt, es war schon etwas kalt.
Die bear-bells waren kleine Glöckchen mit Lederbändchen, die man sich um die Fußgelenke binden sollte, damit sie den etwas schreckhaften Bären rechtzeitig das Nahen des Wanderers ankündigten. Die Bären greifen den Menschen nämlich, so stand es auf dem Flugblatt, normalerweise nur an, wenn sie vor Schreck in Panik geraten. Das erste also, was Erasmus tat, als wir ins Lake Hotel kamen, war bear-bells kaufen. Ich weiß nicht wozu. Wir sind während der ganzen Woche kaum aus unserem Auto ausgestiegen. Wir fuhren immer nur die Landstraße auf und ab, ich saß am Steuer, ließ mir von Erasmus sagen, was für ein miserabler Autofahrer ich sei, und hörte mir mit Fassung seine Jubelschreie über eine weit entfernt grasende Büffelherde oder über einen einsamen Coyoten an, der am Straßenrand darauf lauerte, dass wir eine Maus totfuhren. Manchmal sahen wir auch – das war dann ein Höhepunkt! – Elche, die man in dieser Gegend Moose nannte. So eine Moose-Familie bescherte uns übrigens eine weitere Metadiskussion.
Wir hatten das Auto am Straßenrand geparkt und waren ausgestiegen. Erasmus hatte beobachtet, wie einige Amerikaner sich an die Elch-Gemeinschaft heranschlichen, offenbar in der Absicht, sie zu fotografieren. Wir schlichen mutig hinterher, bis auf hundert Meter an die Moose-Familie heran. Dann blieben die Amerikaner stehen, Erasmus ebenso. Es sei keine Frage, sagte Erasmus später, dass der Amerikaner besser wisse als der Deutsche, wie nahe man an einen Moose herangehen dürfe. Der Amerikaner kenne seinen Moose, der Deutsche nicht. Wir hätten den Amerikanern viel voraus, worum sie uns beneideten, unsere Kultur, unsere Geschichte, den Schwarzwald, Heidelberg. Aber was den oder das Moose betreffe, da sei der Amerikaner uns noch überlegen. Oder ob mir in Heidelberg schon mal ein Moose begegnet sei?
Ich war nämlich weitergegangen. Ich wagte mich auf fünfzig oder sogar dreißig Meter an das erste Moose heran. Es war ein Junges. In einiger Entfernung käute Mutter Moose. Noch weiter hinten, im seichten Wasser eines Flusses, stand in Gedanken Vater Moose. Alle drei waren in einer sehr philosophischen Stimmung und kümmerten sich wenig darum, dass man sie anstarrte und fotografierte, als hätte man noch nie im Leben einen Moose gesehen. Es war eine harmonische Szene, ein Bild des Friedens. Nur einer fiel aus dem Rahmen: Erasmus. Er löste sich unter – wie er mir nachher sagte – Aufbringung seines ganzen Mutes aus dem Schutz der Amerikaner, kam näher an mich heran, gestikulierte wild mit Armen und Beinen und stieß in gewissen Abständen Laute aus, die in meinen Ohren wie »He« oder »Pssst« klangen. Die Moose-Familie fühlte sich dadurch in ihrer Ruhe gestört und trottete davon. Ich aber musste mir die schlimmsten Vorwürfe anhören. Ich sei ein Todeskandidat, sagte Erasmus, ein Selbstmörder, der nicht davor zurückschrecke, auch andere in seinen Abgrund mit hineinzureißen. Er müsse mich um seiner eigenen Sicherheit willen vor mir selber schützen. Schon wieder hätte ich ihn provozieren wollen, genauso wie vor einer Woche in New York.
Das Verteufelte an der Metadiskussion ist, dass man dazu neigt, die Unverträglichkeit von der Objektebene auf die Metaebene hinüberzuschmuggeln. Wir aßen im Restaurant des Lake Hotels. Es gab, das weiß ich noch genau, eine köstliche Lachsforelle. Das Essen machte uns bereit für Friedensverhandlungen, der kalifornische Chablis half kräftig mit, aber es wollte nicht gelingen. Erasmus räumte zwar ein, dass er ein wenig überängstlich sei, bestand aber darauf, dass seine Überängstlichkeit nur eine Reaktion auf meinen fast schon kriminellen Übermut gewesen sei. Ich provozierte seine Überängstlichkeit durch meinen Übermut.
»Nein«, sagte ich, »du provozierst meinen Übermut durch deine Überängstlichkeit.«
»Du verwechselst Ursache und Wirkung«, sagte er.
»Nein«, sagte ich, »ich rücke sie nur zurecht.«
Und so weiter bis zum Dessert. Nicht das Streben nach Erkenntnis beherrschte unsere Metadiskussion, sondern die blanke Rechthaberei.
»Halt«, sagte ich schließlich, »ich mache nicht mehr mit.«
»Was soll das heißen, du machst nicht mehr mit?«
»Du willst mir mal wieder den Schwarzen Peter zuschieben.«
»Wir spielen hier nicht Schwarzer Peter, wir führen eine Metadiskussion.«
»Dann schlage ich vor, wir führen eine Meta-Metadiskussion.«
Es war mein Vorschlag. Später versuchte Erasmus, ihn für sich zu reklamieren, aber ich lasse mir nicht mein letztes Hemd rauben. Die Meta-Metadiskussion hatte nämlich Erfolg. Wir kamen zu der richtigen Erkenntnis, dass wir in unserer Metadiskussion deswegen den Streit nicht beenden konnten, weil wir noch am kausalen Denken festgehalten hatten. So waren wir dazu verdammt gewesen, Erasmus' Überängstlichkeit auf meinen Übermut zurückzuführen, oder aber meinen Übermut auf Erasmus' Überängstlichkeit. Ein Drittes gab es nicht, wenn man so dachte. Ein anderes, moderneres Denken dagegen würde hier statt Ursache und Wirkung Interdependenzen sehen, einen Regelkreis vielleicht, ein halbgeschlossenes System oder wie immer man so etwas nenne wollte, in jedem Falle sah die Sache dann schon anderes aus: Überängstlichkeit des einen und Übermut des anderen bedingten einander, schaukelten sich wechselseitig hoch oder herunter, Schuld hatte selbstverständlich keiner, jeder sollte sich an seine eigene Nase fassen, und was vielleicht noch möglich schien, war Vorsicht bei der Wahl der Situationen, in die wir uns hinein begaben, darüber sollte man mal nachdenken. Mein Vorschlag, das schwerfällige »Über« aus unserer Sprache zu verbannen und künftig statt von Überängstlichkeit und Übermut nur noch von Angst und Mut zu reden, wurde aus irgendeinem Grunde abgelehnt. Und damit gingen wir schlafen.
In der Nacht fing es an zu schneien. Wir konnten am nächsten Morgen gerade noch ins Auto steigen und zum Flughafen nach Bozeman fahren, sonst hätten wir im Yellowstone Park überwintert. In Kalifornien schien die Sonne. Wir mieteten uns südlich von Los Angeles, direkt am Pazifik, ein Apartment. Zwei Zimmer, große Terrasse, Fernseher, Kühlschrank, Spüle, Herd – alles. Ich besitze noch heute Fotos, auf denen wir beide zu sehen sind: in der Abendsonne sitzend, Zigarette in der einen, das Glas Whiskey in der anderen Hand. Erasmus mit weißer Hose und blau-weiß kariertem Hemd, ich mit weißer Hose und schwarzem Hemd. So saßen wir da. Es ist auf den Bildern deutlich zu erkennen, dass wir das Wohlleben preisen. Aber die Unverträglichkeit war stärker.
Es sind Kleinigkeiten. Immer sind es Kleinigkeiten. Eigentlich nicht der Rede wert. Man schämt sich, dass man nicht die Größe hat, darüber hinwegzusehen. Aber es ist wie verhext, die Kleinigkeiten setzen sich durch. Wenn ich an Kalifornien denke, an Laguna Beach, dann sollte ich eigentlich an Dinge denken, die wirklich von Bedeutung sind, an Disneyland, an Hollywood, an die Besichtigung der Universal Studios. Wir haben eine Guided Tour gemacht, wir haben uns alles angesehen, was die Studios zu bieten hatten, Stuntmen, dressierte Tiere, den Killer-Hai, Frankensteins Schloss, mexikanische Straßen, durch die man künstliche Sturzbäche schickte, und natürlich die Studios selbst mit ihren Tricks und Betrügereien, ohne die der Film nicht auskommt. Das war schon beeindruckend. Im Grunde aber ist es an mir abgeprallt. Wenn ich das alles nicht gesehen hätte, würde ich mich auch nicht ärmer fühlen. Viel mehr beeindruckt haben mich die Kleinigkeiten.
Ich finde, ein Dollar ist eine Kleinigkeit. Ein Schwarzer in Haiti mit einem Dollar Tageslohn mag das ein bisschen anders sehen, ich bin kein Schwarzer in Haiti. Man sagt zwar, beim Geld höre die Freundschaft auf, aber dass die Freundschaft schon bei einem Dollar aufhören sollte, das hätte ich mir doch nicht träumen lassen; nicht, als wir in der Pizzeria in der Eisenacher Straße unsere Reise nach Amerika beschlossen.
Es ist auf solchen Reisen immer die Frage, wie halten wir es mit dem Gelde? Getrennte Kassen? Gemeinsame Kasse? Irgendeine Mischform? Wir hatten uns für die Mischform entschieden, das halte ich auch heute noch für sehr vernünftig. Die großen Beträge für Hotelrechnungen, Leihwagen oder Flugtickets bezahlten wir getrennt, die kleineren